Lebenslügen / Roman
waren – Waschpulver, Putzmittel, alles. »In der Nähe eines Babys sollten sich keine schädlichen Chemikalien befinden«, sagte sie zu Reggie. Das Baby war kostbar, er war so wertvoll wie das wertvollste Ding. »Ich musste viel auf mich nehmen, um es zu bekommen«, sagte Dr. Hunter und lachte. »Es war nicht einfach.«
Dr. Hunter musste vorsichtig sein, weil sie das Asthma (Arzt, hilf dir selber, sagte sie) »ihrer Mutter« geerbt hatte. Sie war auch häufig erkältet, weil eine Arztpraxis »der ungesündeste Arbeitsplatz auf der ganzen Welt ist – voller kranker Leute«. Wenn Reggie direkt neben Dr. Hunter stand, hörte sie manchmal ein Keuchen in ihrer Brust. Der Atem des Lebens, sagte Dr. Hunter zu Reggie. Das Baby schien Dr. Hunters Lungenprobleme nicht geerbt zu haben. (»Dickens hatte Asthma«, sagte Ms MacDonald. »Ich weiß«, sagte Reggie. »Ich habe um das Thema herumgelesen.«)
Auf Mr. Hunters »Bredouille« gab es keine offenkundigen Hinweise. Die Hunters hatten ein schönes Haus, zwei Autos, einen Kühlschrank voller teurer Lebensmittel, und dem Baby mangelte es an nichts.
Wenn Reggie morgens ankam, verhielt sich Mr. Hunter manchmal wie der Läufer einer Staffel, reichte das Baby so schnell an Reggie weiter, dass Augen und Mund des Babys vor Verwunderung über die Rasanz des Wechsels ganz rund wurden. Dann horchten Reggie und Sadie auf das hypnotisierende Geräusch des riesigen Range Rover, der dröhnend und Kies verspritzend wegfuhr, als wäre Mr. Hunter ein Fluchtfahrer. »Am Morgen ist er manchmal wie ein Bär«, sagte Dr. Hunter und lachte. Es schien ihr nichts auszumachen, mit einem Bären zu leben. Es perlte von ihr ab.
Mr. Hunter und Sadie hatten keine große Beziehung. Mehr als »Aus dem Weg, Sadie« oder »Runter von der Couch, Sadie« sagte Mr. Hunter nicht zu ihr. Sie »gehörte zum Paket«, sagte er zu Reggie, »ohne Sadie war Jo nicht zu haben.«
»Wer mich liebt, liebt auch meinen Hund«, sagte Dr. Hunter. »Der beste Freund einer Frau.« Timmy, Struppi, Jumble, Lassie, Greyfriar’s Bobby. Die besten Freunde. Außer der armen Laika, dem Weltraumhund, die niemandes Freundin war.
Dann wieder blieb Mr. Hunter morgens zu Hause und führte endlose Telefongespräche. Manchmal ging er hinaus, damit er rauchen konnte, während er telefonierte. Er sollte nicht rauchen, weder im Haus noch außerhalb, aber die Telefonate schienen ihn dazu zu treiben. »Sag’s nicht weiter«, sagte er und zwinkerte Reggie zu, als würde Dr. Hunter den Rauch in seinen Kleidern nicht riechen oder die Kippen im Kies nicht bemerken.
Reggie hörte Mr. Hunters Gespräche zwangsläufig mit an, weil er immer sehr laut mit den unsichtbaren Leuten am anderen Ende der Leitung sprach. Er »erkunde neue Wege«, sagte er zu ihnen. Er sehe »sehr interessante Aussichten am Horizont« und »neue Gelegenheiten täten sich auf«. Er klang schnoddrig, aber tatsächlich flehte er. »Herrgott noch mal, Mark, ich blute hier verdammt noch mal aus.«
Mr. Hunter sah auf eine kantige, etwas verhauene Weise gut aus, wodurch er sogar besser aussah, als wenn er auf konventionelle Weise attraktiv wäre. Dr. Hunter hatte ihn kennengelernt, als sie als Fachärztin »im alten Royal Infirmary« arbeitete, obwohl er gar nicht aus Edinburgh war. Er war aus Glasgow, »ein Weegie«, sagte Dr. Hunter und lachte; der Ausdruck wurde von Leuten aus Edinburgh im Allgemeinen als Beleidigung benutzt, aber vielleicht wusste Dr. Hunter das nicht, weil sie Engländerin war. Er hatte ihr lange Zeit den Hof gemacht, bevor sie »klein beigab« und ihn heiratete. Mr. Hunter war »in der Freizeitindustrie« tätig, aber was genau er da tat, war Reggie unklar.
Dr. Hunter und Mr. Hunter schienen gut miteinander auszukommen, obwohl Reggie ihre Beziehung nur mit der von Mum und Gary (langweilig) und von Mum und dem Mann-der-vor-Gary-kam (schrecklich) vergleichen konnte. Dr. Hunter lachte über Mr. Hunters Unzulänglichkeiten und schien sich nie über ihn zu ärgern. »Jo sollte in ihrem eigenen Interesse nicht so lässig sein«, sagte Mr. Hunter. Mr. Hunter seinerseits stürzte mit einem hübschen Blumenstrauß oder einer Flasche Wein ins Haus und sagte »Hallo, Puppe« zu Dr. Hunter wie ein Glasgower aus einer Komödie und küsste sie und zwinkerte Reggie zu und sagte: »Hinter jeder großen Frau steht ein Scheißkerl, Reggie, vergiss das nicht.«
Die meiste Zeit beachtete Mr. Hunter Reggie nicht, aber dann überraschte er
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