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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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sie und war richtig nett zu ihr, bat sie, sich an den Küchentisch zu setzen, während er Kaffee kochte und ungeschickt versuchte, Konversation mit ihr zu machen (»Also, was ist deine Geschichte, Reggie?«), aber bevor sie anfangen konnte, ihre (nicht unbeträchtliche) »Geschichte« zu erzählen, klingelte normalerweise das Telefon, und er sprang auf und schritt auf und ab, während er sprach. (»He, Phil, wie geht’s dir? Könnten wir uns nicht mal treffen? Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«)
    Mr. Hunter nannte das Baby »das Balg« und warf es oft in die Luft, wobei das Baby vor Aufregung kreischte. Mr. Hunter sagte, er könne es gar nicht erwarten, bis »das Balg« sprechen und laufen und mit ihm zu Fußballspielen gehen konnte, und Dr. Hunter sagte: »Dafür ist noch Zeit genug. Mach das meiste aus jeder Sekunde, sie sind weg, bevor du dich versiehst.« Wenn sich das Baby weh tat, hob Mr. Hunter es hoch und sagte aufmunternd, aber nicht sonderlich mitfühlend, »Komm schon, kleiner Mann, ist schon wieder gut«, wohingegen Dr. Hunter ihn in die Arme schloss und küsste und sagte, »Arme kleine Semmel«, ein Ausdruck, den sie von Reggie hatte (die ihn ihrerseits von Mum aufgeschnappt hatte). Wenn sie schottische Worte und Ausdrücke benutzte, sprach Dr. Hunter sie mit einem (ziemlich guten) schottischen Akzent aus, als wäre sie zweisprachig.
    Das Baby mochte Mr. Hunter, aber es vergötterte Dr. Hunter. Wenn sie es auf dem Arm hatte, ließ es ihr Gesicht nicht aus den Augen, als wollte es jedes Detail aufnehmen für eine Prüfung, der es sich später unterziehen müsste.
    »Jetzt bin ich eine Göttin für ihn.« Dr. Hunter lachte. »Aber eines Tages werde ich eine lästige alte Frau sein, die zum Supermarkt gebracht werden will.«
    »Och, nein, Dr. H.«, sagte Reggie. »Ich glaube, Sie werden immer eine Gottheit für ihn sein.«
    »Solltest du nicht zur Schule gehen, Reggie?«, fragte Dr. Hunter, ein kleines besorgtes Stirnrunzeln im hübschen Gesicht. Reggie glaubte, dass sie sich ihren Patienten gegenüber genauso verhielt (»Sie müssen wirklich abnehmen, Mrs. MacTavish«).
    »Ja, das sollte ich«, sagte Reggie.
     
    »Komm, Sonnenschein«, sagte Reggie zum Baby, hob es aus dem Hochstuhl und setzte es auf den Boden. Sie durfte es nie aus den Augen lassen, denn im einen Augenblick saß es zufrieden auf dem Boden und versuchte, seinen kleinen dicken Fuß zu essen, und im nächsten robbte es auf eine Gefahr zu. Es wollte alles in den Mund stecken, und wenn etwas klein genug war, um daran zu ersticken, dann stürzte das Baby schnurstracks darauf zu, und Reggie musste unablässig Ausschau halten nach Knöpfen, Münzen und Trauben – die es besonders mochte. Die Trauben mussten halbiert werden, was harte Arbeit war, aber Dr. Hunter hatte ihr von einer Patientin erzählt, deren Baby gestorben war, als eine Traube in seine Luftröhre geriet und niemand ihm helfen konnte, sagte Dr. Hunter, als wäre das schlimmer als das Sterben selbst. Damals hatte Reggie Dr. Hunter gebeten, ihr nicht nur das Heimlich-Manöver beizubringen, sondern auch Mund-zu-Mund-Beatmung, das Stoppen einer arteriellen Blutung und die Behandlung von Verbrennungen. Sowie von Stromschlägen und Vergiftungen. (Und Ertrinken natürlich.) »Du könntest einen Erste-Hilfe-Kurs machen«, sagte Dr. Hunter, »aber sie legen so viele unnötige Verbände. Wir können Arme und Handgelenke bandagieren, einen simplen Kopfverband machen, aber etwas Komplizierteres brauchst du nicht. Du musst eigentlich nur wissen, wie man ein Leben rettet.« Sie brachte eine Reanimationspuppe aus der Praxis mit nach Hause, damit Reggie üben konnte. »Wir nennen sie Eliot«, sagte Dr. Hunter, »aber keiner weiß mehr, warum.«
    Wenn Reggie an das Baby dachte, das an einer Traube erstickt war, dann stellte sie sich vor, dass es zugestöpselt war wie eine altmodische Limonadenflasche mit einer Murmel im Hals, die sie im Museum gesehen hatte. Reggie mochte Museen. Saubere, gut beleuchtete Orte.
    Mr. Hunter war sehr unbekümmert, was das Baby betraf. Er sagte, Babys seien »praktisch unzerstörbar« und Dr. Hunter mache sich zu viele Sorgen, »aber was soll man erwarten angesichts ihrer Geschichte«. Reggie kannte Dr. Hunters Geschichte nicht (sie stellte sich vor, sie würde sagen, »Was ist Ihre Geschichte, Dr. H.?«, aber es klang nicht richtig). Reggie wusste mit Sicherheit nur, dass William Morris im Regal in Dr. Hunters Wohnzimmer stand, während

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