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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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ihr Vater offiziell zu Gerümpel erklärt und ins Kuriositätenkabinett im oberen Stock verbannt war. Reggie selbst hielt Babys für extrem zerstörbar, und nach der Traubengeschichte wurde sie überaus paranoid, dass das Baby nicht mehr atmen könnte. Aber was sollte sie erwarten angesichts ihrer eigenen Geschichte? (»Der Atem«, sagte Dr. Hunter, »der Atem ist alles.«)
    Manchmal lag Reggie abends im Bett und hielt die Luft an, bis ihre Lunge fast platzte, um zu fühlen, wie es war, und dabei dachte sie an ihre Mutter, die mit ihrem Haar wie mit einer neuen, geheimnisvollen Art von Seetang unter Wasser verankert war.
    »Wie lang dauert es, bis man ertrunken ist?«, fragte sie Dr. Hunter.
    »Da sind einige Variablen in Betracht zu ziehen«, sagte Dr. Hunter. »Wassertemperatur und so weiter, aber grob gesprochen fünf bis zehn Minuten. Nicht lange.«
    Lange genug.
     
    Reggie stellte die Schüsseln des Babys auf das Abtropfgestell. Die Spüle befand sich unter dem Fenster, das auf eine Wiese am Fuß des Blackford Hill hinausging. Manchmal weideten Pferde auf der Wiese, manchmal nicht. Reggie hatte keine Ahnung, wo die Pferde waren, wenn sie nicht auf der Wiese waren. Jetzt im Winter trugen sie dunkelgrüne Decken wie Barbour-Jacken.
    Wenn Dr. Hunter früh nach Hause kam, bevor sich die Winterdunkelheit herabsenkte, gingen sie manchmal mit dem Hund und dem Baby auf die Wiese, und das Baby krabbelte im harten Gras herum, und Reggie lief Sadie über die Wiese nach, weil Sadie es liebte, wenn man so tat, als würde man sie jagen, und Dr. Hunter lachte und sagte zum Baby, »Komm, lauf, lauf schnell wie der Wind!«, und das Baby sah sie an, weil es natürlich nicht wusste, was das war. Wenn die Pferde auf der Wiese waren, hielten sie sich von ihnen fern, als würden sie rennen, was sie gewiss taten, im Geheimen.
    Die Pferde waren große, nervöse Geschöpfe, und Reggie mochte nicht, wie sie die Lippen über den großen gelben Zähnen zurückzogen, sie stellte sich vor, wie sie die aufgeregte Faust des Babys mit einem Apfel verwechselten und sie abbissen.
    »Die Pferde beunruhigen mich auch«, sagte Dr. Hunter. »Sie wirken immer so traurig, findest du nicht? Wenn auch nicht so traurig wie Hunde.« Reggie fand, dass Hunde ziemlich glückliche Tiere waren, aber Dr. Hunter sah überall potenzielle Traurigkeit. »Wie traurig«, sagte Dr. Hunter, wenn die Blätter von den Bäumen fielen. »Wie traurig«, sagte sie, wenn im Radio ein Lied lief (Beth Nielsen Chapman). »Wie traurig«, wenn Sadie leise winselte, wenn sie sich bereitmachte, das Haus zu verlassen. Auch am Geburtstag des Babys, als sie so glücklich gewesen waren und Kuchen und rosa Eis gegessen hatten, sagte Dr. Hunter auf der Heimfahrt: »Sein erster Geburtstag, wie traurig, es wird nie wieder ein Baby sein.«
    Reggie hatte dem Baby zum Geburtstag einen Teddybären und ein Lätzchen geschenkt, bestickt mit blauen Enten und den Worten »Babys erster Geburtstag«. Erste Dinge waren schön, letzte weniger.
    Nach diesen traurigen Momenten schüttelte Dr. Hunter oft den Kopf, als wollte sie etwas daraus verscheuchen, lächelte und sagte, »Und trotzdem sind wir guten Mutes, nicht wahr, Reggie?«, und Reggie sagte: »Ja, das sind wir, Dr. H.«
    »Sag Jo zu mir«, sagte Dr. Hunter zu Reggie. »Der Apfelwurm, o Graus, o Graus, guckte fröhlich aus dem Haus«, sagte sie zum Baby.
    Reggie hatte Dr. Hunter nie erzählt, dass ihre Mutter tot war, auf was für eine unnötige und tragische Weise Mum gestorben war, das Gewicht der Traurigkeit hätte Dr. Hunter womöglich nicht ertragen. Und jedes Mal, wenn sie Reggie anblickte, hätte Dr. Hunter diesen traurigen Ausdruck im Gesicht, und auch das wäre unerträglich gewesen. Stattdessen erfand Reggie ihre Mutter. Sie hieß Jackie und arbeitete an der Kasse eines Supermarkts in einem Einkaufszentrum, in das Dr. Hunter nie ging. Als junge Frau war sie eine hervorragende Highland-Tänzerin gewesen (worauf man nie gekommen wäre). Ihre besten Freundinnen hießen Mary, Trish und Jean. Sie plante immer die nächste Diät, hatte langes Haar (schönes Haar, leider hatte Reggie es nicht geerbt), das sie, so sagte sie, bald würde aufstecken müssen, weil sie zu alt wurde, es offen zu tragen. Sie wäre dieses Jahr sechsunddreißig geworden, genauso alt wie Dr. Hunter. Sie war sechzehn, als sie sich mit Reggies Vater verlobte, siebzehn, als Billy geboren wurde, und mit zwanzig war sie Witwe. Wahrscheinlich war es nur gut

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