Lebenslügen / Roman
kleine Diebstähle gewesen, Schuleschwänzen, Ärger mit der Polizei (oh, die Ironie), aber sie wusste, weil sie es oft genug bei anderen Teenagern erlebt hatte, dass es nicht nur eine Phase wäre, würde es nicht im Keim erstickt, sondern eine Lebensweise. Er war bereit für eine Veränderung, sonst hätte es nicht geklappt. Sie zahlte mit dem Geld aus der Lebensversicherung ihrer Mutter seine exorbitanten Schulgebühren. »Jetzt ist die besoffene alte Kuh endlich für was gut«, sagte Louise. Das College war die Art Institution, gegen die Louise ihr ganzes rot geflaggtes Leben lang zu Felde gezogen war – die Privilegien, die Fortsetzung der herrschenden Ordnung, bla, bla, bla. Aber jetzt war sie dafür, denn das Allgemeinwohl war kein Argument, das sie gegen ihr eigen Fleisch und Blut anführen würde. »Was ist mit deinen Prinzipien?«, wurde sie gefragt, und sie entgegnete: »Archie ist meine Prinzipien.«
Das Wagnis hatte sich gelohnt. Zwei Jahre später und war er relativ mühelos vom Gothic zum Streber mutiert (sein wahres Metier seit jeher) und hing jetzt mit seinen Streberkollegen im Astronomieclub herum, im Schachclub, im Computerclub und bei weiß Gott was für anderen Aktivitäten, die Louise vollkommen fremd waren. Louise hatte einen M. A. in Literatur, und sie war überzeugt, hätte sie eine Tochter, sie würden vergnügt über die Brontës und George Eliot plaudern. (Während sie was taten? Kuchen backten und sich gegenseitig schminkten? Vergiss es, Louise.)
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte Patrick.
»Wofür?«
»Ein Baby.«
Ein kalter Schauder durchfuhr sie. Jemand hatte eine Tür in ihrem Herzen geöffnet und den Nordwind hineingelassen. Wollte er ein Baby? Sie konnte ihn nicht fragen für den Fall, dass er ja sagte. Wollte er sie dazu verführen, wie er sie zum Heiraten verführt hatte? Sie hatte bereits ein Kind, ein Kind, das um ihr Herz gewickelt war, und sie konnte nicht noch einmal an dieser wilden Küste wandeln.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie gekämpft. »Zeit, damit aufzuhören«, sagte Patrick und massierte ihre Schultern nach einem besonders zermürbenden Arbeitstag. »Leg die Waffen ab und kapituliere, nimm die Dinge, wie sie kommen.«
»Du hättest Zen-Meister werden sollen«, sagte sie.
»Das bin ich.«
Sie hatte nicht damit gerechnet, vierzig zu werden und sich in einer Familie mit zwei Wagen wiederzufinden, in einer teuren Wohnung zu wohnen, einen Stein von der Größe Gibraltars zu tragen. Die meisten Menschen hielten das für erstrebenswert oder für eine Verbesserung ihres Lebens, aber Louise hatte das Gefühl, als wäre sie falsch abgebogen, ohne es zu merken. Manchmal, in ihren paranoideren Momenten, fragte sie sich, ob es Patrick gelungen war, sie zu hypnotisieren.
Sie hatte ihre Versicherungspolice geändert, als sie umzog, und die Frau am anderen Ende der Leitung stellte die Standardfragen – Alter des Hauses, wie viele Zimmer, gab es eine Alarmanlage –, bevor sie fragte, »Haben Sie Schmuck, Pelze oder Feuerwaffen?«, und einen Augenblick lang verspürte Louise eine unerwartete Erregung bei dem Gedanken an ein Leben mit diesen Dingen. (Ein Anfang war gemacht – sie hatte den Diamanten.) Sie hatte eindeutig die Abzweigung verpasst, alles ordentlich verpackt, sich eingenistet, obwohl die wahre Louise irgendwo draußen ein Außenseiterleben führen, Pelze und Juwelen und eine Knarre tragen wollte. Sogar die Pelze irritierten sie nicht. Sie könnte etwas schießen, häuten und essen, das wäre besser als die gefühllose Distanz zwischen dem Schlachthof und den weichen bleichen Packungen im Kühlregal von Waitrose.
»Nein«, sagte sie zu der Frau von der Versicherung und wurde wieder nüchtern, »nur meinen Verlobungsring.« Ein gebrauchter Klunker im Wert von zwanzigtausend Pfund. Verkauf ihn und lauf, Louise. Lauf schnell. Joanna Hunter war Sprinterin gewesen (war sie es noch immer?), Universitätsmeisterin. Sie war einmal gerannt und hatte ihr Leben gerettet, vielleicht hatte sie dafür gesorgt, dass niemand sie je wieder erwischte. Louise hatte die Pinnwand in der Küche der Hunters studiert, die kleinen alltäglichen Trophäen und Lebenserinnerungen – Postkarten, Urkunden, Fotos, Botschaften. Selbstverständlich nichts über das Ereignis, das ihre gesamte Existenz geprägt haben musste, Mord war nicht etwas, was man an einer Korktafel in der Küche aufhängte. Alison Needler dagegen lief nicht. Sie versteckte sich.
Louise sah Archie kaum mehr.
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