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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Er hatte sich dafür entschieden, unter der Woche in der Schule zu wohnen, nicht bei seiner Mutter. Am Wochenende verbrachte er seine Zeit überwiegend mit den gleichen Jungs wie unter der Woche.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte Patrick. »Er ist sechzehn, er breitet seine Flügel aus.«
    Louise dachte an Ikarus.
    »Und lernt zu fliegen.«
    Louise dachte an den toten Vogel, den sie am Wochenende vor der Wohnung gefunden hatte. Ein schlechtes Omen. Ein kleiner Sperling, den ein Junge mit Pfeil und Bogen abgeschossen hatte.
    »Er muss erwachsen werden.«
    »Ich sehe nicht ein, warum.«
    »Louise«, sagte Patrick leise. »Archie ist glücklich.«
    »Glücklich?« Glücklich war kein Wort, das sie seit seiner Kindheit auf Archie angewandt hatte. Wie wunderbar, fröhlich ungehemmt er in seinem Glück gewesen war. Sie hatte geglaubt, dass es so bleiben würde, ihr war nicht klar, dass sich Kinderglück auflöste, weil sie als Kind nie glücklich gewesen war. Wenn sie gewusst hätte, dass Archie nicht ewig dieser sonnige, unschuldige Junge bliebe, hätte sie jeden Augenblick wie einen Schatz gehortet. Jetzt könnte sie es wieder erleben, wenn sie wollte. Der Nordwind heulte. Sie schloss die Tür.
     
    Sie war auf dem Rückweg von einer Besprechung mit dem Amethystteam im Gyle. Dort war sie zum ersten Mal Alison Needler begegnet, ein halbes Jahr vor den Morden, als sie ein paar Monate bei Amethyst aushalf, der Familienschutzeinheit. David Needler, der sich der gerichtlichen Verfügung widersetzte, hatte auf dem Rasen vor dem Haus in Trinity Stellung bezogen und gedroht, sich zu verbrennen, während seine Kinder und seine Exfrau aus dem Fenster im ersten Stock zusahen. Als Louise ankam, sofort nach dem Einsatzwagen, wurde er von Alisons Schwester Debbie, die in der Tür stand, beschimpft. (»Ein Schandmaul, unsere Debs«, laut Alison. Dafür musste sie ihren Preis zahlen, nicht wahr?)
    Mehr als beschimpft, verhöhnt. (»Na los, mach schon, du Mistkerl, wir wollen sehen, wie du dich abfackelst.«)
    Am nächsten Tag war David Needler vor Gericht verwarnt und gemahnt worden, sich an die gerichtliche Verfügung zu halten und von seiner Familie fernzubleiben, was er tat, bis er ein halbes Jahr später mit einer Schrotflinte zurückkehrte.
    Louise fuhr auf den Parkplatz von Howdenhall. Sie wollte sich im Revier melden und ihren eigenen Wagen holen, in fünf Minuten wäre sie wieder unterwegs. Sie hatte jede Menge Zeit.
     
    »Der endgültige forensische Bericht ist da, Boss«, sagte ihr junger Kriminalmeister Marcus McLellen und reichte ihr eine Aktenmappe. »Wie erwartet, war der Brand in der Spielhalle eindeutig willentlich gelegtes Feuer.«
    Marcus war sechsundzwanzig, hatte einen B. A. in Medienwissenschaft der Universität Stirling (wer hatte den nicht?) und einen Kopf voller Haare, die Shirley Temple das Fürchten gelehrt hätten, wenn er sie hätte wachsen lassen, statt sie vernünftigerweise zu einem Astrachan zu scheren. Er spielte Rugby, und Louise hatte an einem Samstagvormittag auf einer eiskalten Tribüne gebibbert und sich für ihn heiser geschrien (ein großartiges Ventil für Aggressionen), etwas, was sie nie für den schmächtigen, sportphobischen Archie hatte tun können.
    Nachdem er die Uniform abgelegt hatte, war der Fall Needler Marcus’ Feuertaufe gewesen, und er hatte sie besser bestanden, als sie erwartet hatte. Er war ein lieber Junge, nachgerade cherubinisch, geradlinig wie eine römische Straße, härter, als er wirkte, und immer gut gelaunt. Wie Patrick. Woher stammte sie, diese gute Laune, saugten sie sie mit der Muttermilch ein? (Armer Archie.)
    Sie hatte Marcus unter ihre Fittiche genommen wie eine Glucke. Nie zuvor hatte Louise Muttergefühle für einen Kollegen gehegt, und es war eine beunruhigende Erfahrung. Es musste am Alter liegen, dachte sie. Aber »Marcus?« – ein seltsamer lateinischer Namen für jemanden, der in Sighthill geboren war. (»Eine nach Höherem strebende Mutter, Boss«, sagte er. »Aber besser als Titus. Oder Sextus.«)
    Er war rasiermesserscharf auf den Needler-Fall gewesen, aber sie hatte ihn abgezogen und auf etwas anderes angesetzt. »Damit Sie mehr Erfahrung kriegen«, sagte sie, aber tatsächlich wollte sie nicht, dass er so besessen von Alison Needler wurde wie sie. Jetzt bearbeitete er den Brand in der Spielhalle in der Bread Street, die ein paar Wochen zuvor mysteriöserweise in Flammen aufgegangen war.
    »Versicherung?«, spekulierte Louise. »Oder in böser

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