Lebenslügen / Roman
Kontaktlinsen herausgenommen, die Füße hochgelegt und irgendeinen Schund im Fernsehen geglotzt, aber jetzt rannte sie herum wie eine Wahnsinnige, sorgte sich wegen Rittersporn und Delia-Rezepten. Gab es einen Weg zurück?
»Wir können absagen«, sagte Patrick am Telefon. »Das ist keine Affäre, du bist müde.« Keine Affäre für ihn vielleicht, eine Riesenaffäre für sie. Patricks Schwester und ihr Mann, zu Besuch aus Bournemouth oder Eastbourne oder so. Irische Diaspora. Sie waren überall, wie die Schotten.
»Sie werden zufrieden sein mit Käse und Toast, oder wir lassen was kommen«, sagte Patrick. Er war bei allem so verdammt entspannt. Und was würden sie denken, wenn sie keine Anstrengung unternahm? Sie hatten die Hochzeit verpasst, aber alle hatten die Hochzeit verpasst. Die Schwester (Bridget) war deswegen offenbar bereits verärgert. »Nur wir beide, auf dem Standesamt«, sagte Louise zu Patrick, als sie schließlich nachgab und ja sagte.
»Was ist mit Archie?«, fragte Patrick.
»Muss er kommen?«
»Ja, er ist dein Sohn, Louise.« Tatsächlich hatte Archie sich wohl verhalten, ihnen die Ringe gereicht, sich auf gedämpfte, unsichere Weise gefreut, als Louise »ja« sagte. Patricks Sohn, Jamie, war nicht dabei. Er promovierte in Archäologie und buddelte mitten in einem gottverlassenen Nirgendwo. Er war einer dieser Typen, die sich am liebsten im Freien aufhielten – Skifahren, Surfen, Tauchen –, »ein richtige Junge«, sagte Patrick. Im Gegensatz zu ihrem eigenen Jungen, ihrem kleinen Pinocchio.
Sie hatten zwei Personen von der nächsten Hochzeit als Trauzeugen genommen und zum Dank jeder eine gute Flasche Malzwhisky geschenkt. Louise trug ein Kleid aus Rohseide in einer Farbe, die der persönliche Berater bei Harvey Nichols »Auster« genannt hatte, Louise aber einfach für grau hielt. Es war hübsch, ohne übertrieben zu sein, und es brachte ihre schönen Beine zur Geltung. Patrick sorgte für Blumen, sie hätte sich nicht darum gekümmert – einen altmodischen Strauß rosa Rosen für sie und rosa Rosenknospen für sein und Archies Knopfloch.
Zwei Jahre zuvor, kurz nachdem sie Patrick kennengelernt hatte und als Archies Verhalten am verstörendsten war, hatte sie eine Therapie gemacht, etwas, was sie sich geschworen hatte, nie zu tun. Sag niemals nie. Sie tat es für Archie, weil sie glaubte, dass seine Probleme die Folge von ihren waren, dass das Leben für ihn besser würde, wenn sie eine bessere Mutter wäre. Und sie tat es auch für Patrick, weil er eine Chance auf Veränderung darstellte, darauf, wie andere Menschen zu werden.
Es war eine kognitive Verhaltenstherapie, die nicht zu tief in den Sumpf ihrer Psychopathologie eindrang, Gott sei Dank. Das Prinzip bestand darin, dass sie lernen sollte, negatives Denken zu vermeiden, und dadurch frei würde, eine positivere Einstellung zum Leben zu entwickeln. Die Therapeutin, eine hippiehafte, wohlmeinende Frau namens Jenny, die aussah, als hätte sie sich selbst gestrickt, wies Louise an, sich einen Ort vorzustellen, an dem sie alle ihre negativen Gedanken abladen konnte, und Louise entschied sich für eine Truhe am Grund des Meeres, wie sie Piraten in Märchenbüchern liebten – mit Eisen beschlagen und beringt, mit Vorhängeschlössern gesichert, nicht um einen Schatz, sondern Louises nicht hilfreiche Gedanken darin zu verschließen.
Je detaillierter, umso besser, sagte Jenny, und Louise legte Korallen und Muscheln in den Sand, klebte Entenmuscheln an die Seiten der Truhe, ließ neugierige Fische und Haie darum kreisen, Hummer und Krebse darüber krabbeln, Seetang mit der Strömung schwanken. Sie wurde zur Expertin mit den Schlössern und Schlüsseln, konnte ihre Unterwasserwelt aufsuchen, als würde sie einen mentalen Schalter umlegen. Das Problem war, nachdem sie alle negativen Gedanken sicher am Grund des Meeres weggesperrt hatte, war nichts mehr übrig, kein einziger positiver Gedanke. »Wahrscheinlich bin ich einfach keine positive Person«, sagte sie zu Jenny. Sie dachte, Jenny würde protestieren, sie an ihren mütterlichen, gestrickten Busen ziehen und sagen, dass es nur eine Frage der Zeit (und des Geldes) sei, bevor sie gekittet wäre. Aber Jenny stimmte ihr zu und sagte: »Wahrscheinlich nicht.«
Sie brach die Therapie ab, und bald darauf nahm sie Patricks Antrag an.
Archie ging jetzt auf das Fettes College. Zwei Jahre zuvor, im Alter von vierzehn, hatte er am Rand von etwas Schlimmem gestanden, es waren nur ein paar
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