Lebenslügen / Roman
räumen.
Karen blickte auf den Bericht auf Louises Schreibtisch. »Derselbe Hunter?«, sagte sie. »Neil Hunter ist Joanna Hunters Mann? Wow. Das nenne ich Zufall.«
»Ist Joanna Hunter ein Name, den ich kennen sollte?«, fragte Marcus Louise.
»Die davongekommen ist«, sagte Karen. »Gabrielle Mason, drei Kinder? Vor dreißig Jahren?«
Marcus schüttelte den Kopf.
»Ach, wie süß. Du bist noch so jung«, sagte Karen. »Ein Mann hat die Mutter und zwei ihrer Kinder auf einem Feld in Devon umgebracht, Joanna ist davongerannt und hat sich versteckt und wurde später unverletzt gefunden. Joanna Hunter, geborene Mason.«
»Der Mann, der für die Morde verurteilt wurde, heißt Andrew Decker«, sagte Louise. »Er wurde für zurechnungsfähig erklärt. Wenn es von geistiger Gesundheit zeugt, eine Mutter und zwei ihrer Kinder zu erstechen, wie lautet dann die Definition von irrsinnig? Das fragt man sich doch, oder? Und jetzt kommt er raus – er ist schon draußen –, und jemand hat es der Presse gesteckt. Es wird in allen Nachrichten sein für mindestens, ich weiß nicht, zwei Stunden. Futter für den gierigen Rachen der Presse. Ich war gestern bei ihr, um sie zu warnen.«
Karen zerknüllte das Snickers-Papier und warf es in den Papierkorb. »Und ist sie noch immer ein Opfer, Boss?«
»Gute Frage«, sagte Louise.
Es war jetzt zu spät, um noch zu Maxwell’s zu fahren, sie konnte bei Waitrose Blumen kaufen. Sie hatte noch genug Zeit. Gerade noch. Sie stieg in ihren Wagen, einen silberfarbenen BMW 3er, der wesentlich schicker war als Patricks übersensibler Ford Focus. Er war grundanständig, bis hinunter zum Wagen, den er fuhr.
Und dann klingelte ihr Handy. Einen Augenblick lang dachte sie daran, sich nicht zu melden. Ihr Instinkt, ihr sechster Polizeisinn sagte ihr – brüllte sie an –, dass es keinen Seebarsch, keine zweimal gebackenen Soufflés geben würde, wenn sie sich meldete.
Sie nahm beim dritten Klingeln ab. »Hallo?«
Zuflucht
S adie stellte die Ohren auf. Der Hund hörte Dr. Hunters Wagen immer lange vor Reggie. Er drückte seine Aufregung mit einem winzigen Wedeln der Schwanzspitze aus, aber wenn Reggie sie berührte, stand Sadies gesamter Körper vor Vorfreude wie unter Strom. Das Baby auch. Wenn es Dr. Hunter die Küche betreten sah, spürte Reggie, wie die Aufregung seinen soliden Torso durchfuhr, als es sich darauf vorbereitete, sich in die Luft zu katapultieren, die kleinen dicken Arme seiner Mutter entgegengestreckt.
»Hoppla, Cowboy, immer mit der Ruhe.« Dr. Hunter nahm ihn lachend in die Arme und drückte ihn fest an sich. Dr. Hunter hatte einen Schwall eisiger Luft mitgebracht. Sie trug wie üblich ihre teure Mulberry-Tasche (Die Bayswater – ist sie nicht schön, Reggie?), die Mr. Hunter ihr im September zum Geburtstag geschenkt hatte, und über dem Arm hing in Plastik gehüllt eins ihrer schwarzen Kostüme – sie hatte drei identische Kostüme, eines trug sie, eins hing im Schrank, eins war in der Reinigung.
»Quelle horreur«, sagte sie und zitterte theatralisch. »Still und starr ruht der See. Es ist eiskalt draußen.«
»Baltisch«, sagte Reggie.
»Es weht der Wind aus dem Norden, für Schnee wird er sorgen, was wird das Rotkehlchen dann tun, das arme Ding?«
»Es wird in der Scheune sich verstecken, den Kopf mit dem Flügel bedecken, das arme Ding, Dr. H.«
»Ist hier alles in Ordnung, Reggie?«
»Total, Dr. H.«
»Wie geht’s meinem Schatz?«, fragte Dr. Hunter und schnüffelte am Nacken des Babys (»Er ist essbar, meinst du nicht auch?«), und Reggie spürte etwas im Herzen, einen kleinen Schmerz, und sie wusste nicht genau warum, aber sie dachte, es wäre traurig (ja, sehr traurig), dass niemand sich an die Zeit als Baby erinnern konnte. Was hätte Reggie nicht dafür gegeben, wieder ein Baby zu sein, umschlungen von Mums Armen. Oder Dr. Hunters Armen. Von irgendjemandes Armen eigentlich. Außer Billys natürlich.
»Es ist so traurig, dass er sich nicht daran erinnern wird«, sagte sie zu Dr. Hunter. (War Dr. Hunters Traurigkeit irgendwie ansteckend?)
»Manchmal ist es gut zu vergessen«, sagte Dr. Hunter. »Wildschweinkinder leben herrlich, wühlen stets in Sumpf und Moor, und die liebe Wildschweinmutter macht es ihnen vor.«
Reggies Mutter hatte gern umarmt und geküsst. Vor Gary und vor dem Mann-der-vor-Gary-kam saßen sie abends auf dem Sofa, aneinander geschmiegt, sahen fern, aßen Kartoffelchips oder geliefertes Essen. Reggie schlang
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