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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Der Vorhang schloss sich, und Alison verschwand.
    Louise lag etwas an Alison Needler, an Joanna Hunter. Jackson Brodie hatte etwas an verschwundenen Mädchen gelegen, er wollte, dass sie alle gefunden wurden. Louise wollte, dass sie erst gar nicht verschwanden. Es gab viele Möglichkeiten zu verschwinden, und nicht immer hieß es, dass man deswegen vermisst wurde. Nicht immer hieß es, dass sie sich versteckten, manchmal verschwanden Frauen vor aller Augen. Alison Needler, die sich anpasste, in ihrer Ehe verschwand, jeden Tag ein wenig mehr. Jacksons Schwester, die eines Abends im Regen aus einem Bus stieg und aus ihrem Leben trat. Gabrielle Mason verschwand für immer an einem sonnigen Nachmittag.
    Der Gedanke an Jackson Brodie versetzte ihrem Herzen einen kleinen, schuldbewussten Stich. Schlechte Ehefrau.
     
    Vor dem Haus der Needlers war kein Polizist mehr stationiert. Nur Louise fuhr noch hin, bis das Stück der M8 zwischen Edinburgh und Livingston sich ihrem Gehirn eingegraben hatte, und hielt zu zufälligen Tages- und Nachtzeiten Wache. Auf Alison aufzupassen hatte etwas Meditatives. Eines Tages würde David Needler kommen. Und Louise würde ihn schnappen.
    Sie ließ den Motor an, und Alison Needler tauchte erneut am Fenster auf. Louise hob die Hand, aber Alison erwiderte die Abschiedsgeste nicht.
     
    Patrick hatte »ein Bankett für vier« von einem chinesischen Restaurant in der Nähe bestellt. Das hatten sie schon mehrmals getan, und Louise hatte das Essen okay gefunden, aber unter der langen, ziemlich knolligen Nase von Patricks älterer Schwester Bridget wirkte der Inhalt der klebrigen Alubehälter wenig verlockend.
    Louise war auf der Heimfahrt am Verhungern gewesen und hätte beinahe ihren schottischen Genen nachgegeben und unterwegs Fish and Chips mitgenommen, aber kaum hatte sie die Schwelle zu »ihrem Haus« (»ihrer beider Haus«, nicht »ihrem Zuhause«) überschritten, war ihr Appetit wie weggeblasen.
    »Entschuldigt. Ich war verhindert«, sagte sie zu ihrer neuen Schwiegerfamilie, als sie eintrat.
    Louise hätte sich am liebsten ausgezogen und unter die heiße Dusche gestellt, aber sie saßen bereits wartend am Tisch. Sie kam sich vor wie ein aufsässiger Teenager, der sich zu spät hereinschleppte. Sie dachte, dass Archie sich so fühlen müsste. Tief in ihrem Innern spürte sie einen Stich, sie wollte ihren Sohn, sie wollte ihn in die Arme nehmen und festhalten. Nicht wie er jetzt war, sondern so, wie er früher gewesen war. Ihr kleiner Junge.
    Patrick reichte ihr ein Glas Rotwein. Der König sitzt in Dunfermline und trinkt den blutroten Wein. Rotwein passte nicht zu chinesischem Essen. Wäre es proletenhaft, wenn sie in die Küche ginge und sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holte? (»Ja«, lautete offensichtlich die Antwort.) Patrick füllte sein eigenes Glas und stieß mit ihr an. »Willkommen zu Hause«, sagte er und lächelte sie an.
    Sie hatte ihres schon fast ausgetrunken.
     
    Bridget pickte mit ihren Stäbchen in süß-saurem Huhn und nahm vorsichtig einen Bissen in den Mund. Das Essen sah jetzt noch weniger verheißungsvoll aus, weil Patrick es in die Porzellanschüsseln von Wedgewood umgefüllt hatte, die zu seiner Aussteuer gehörten. Der Aussteuer aus seiner ersten Ehe mit Samantha. Der ersten Mrs. de Winter, seiner lieben Gräfin.
    Bridget musste schon Dutzende von Malen von dem Wedgewood gegessen haben. Leckeres, von Samantha mühsam eigenhändig gekochtes Essen, weil ihr daran gelegen hatte, Patrick glücklich zu machen. (»So war es überhaupt nicht«, sagte Patrick. »Sam war Anästhesistin. Sie hat fast so viel gearbeitet wie ich.«)
    Was tat sie hier? Sie lebte mit den Sachen einer toten Frau. Nicht im Haus einer Toten, so verrückt war sie nicht. Patrick wohnte noch im »Familienheim«, als sie sich kennenlernten, einem wirklich schönen Haus am Dick Place, die Art Haus, in der Louise gern gewohnt hätte, während sie mit ihrer Mutter in einer Einzimmerwohnung im obersten Stock eines Sozialbaus in Fountainbridge aufwuchs. Dennoch hatte Patrick keine Sekunde gezögert und das Haus am Dick Place verkauft – für eine unglaubliche Summe –, und sie kauften eine schicke neue Wohnung in einem Zweifamilienhaus nahe dem Astley Ainslie Hospital. Von außen sah es abscheulich aus – Holzverkleidungen und Eisenbalkone –, doch innen wies es den langweiligen Luxus auf, den Louise seltsam attraktiv fand. Anfänglich war es steril wie ein Operationssaal, doch bald

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