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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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zwei Ehefrauen nacheinander verlor, machte keinen guten Eindruck.
     
    Sie streifte den Ring über den Finger. Sollte Bridget sehen, dass sie vielleicht nicht teurer als Rubine war, aber immerhin war sie ein dreieinhalbkarätiges Stück Eis wert. Sie schob den Hochzeitsring auf denselben Finger, und er fühlte sich plötzlich schwer an. Die Ringe waren eng. Einen Augenblick lang glaubte sie, sie wären geschrumpft, bis ihr klar wurde, dass wahrscheinlich ihr Finger dicker geworden war.
    Sie sah sich selbst im Spiegel und war schockiert – ihre Haut war durchscheinend wie Alabaster, ihre Augen waren riesig und schwarz, als hätte sie Belladonna genommen. An einer Schläfe pochte eine dicke Ader wie ein Wurm, der unter der Haut vergraben war. Sie sah aus wie jemand, der einen schrecklichen Unfall erlitten hatte.
     
    Unten klingelte beharrlich das Telefon, und als sie widerstrebend hinunterging, stand Patrick im Flur, zog seine Berghaus-Jacke an und wandte sich der Tür zu. »Ein Zug ist entgleist«, sagte er. »Ziemlich schlimm. Alle werden gebraucht«, fügte er gut gelaunt hinzu. »Kommst du?«

Komische alte Welt
    R eggie Chase, klein wie eine Maus, still wie ein leeres Haus. Sie kraulte gedankenverloren Banjos Kopf. Homer lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß, aber sie schaute Coronation Street. Sie hatte die alte Schachtel Schokobonbons mit Veilchengeschmack fast aufgegessen, die sie ganz hinten in Ms MacDonalds Küchenschrank gefunden hatte (bei Sturm tut’s jeder Hafen). Sie blickte auf die Uhr, Ms MacDonald käme bald nach Hause.
    Sie hörte, dass sich ein Zug näherte, das Geräusch zuerst vom Wind gedämpft, dann lauter und lauter. Nicht das gewohnte Zuggeräusch, sondern eine laut grollende Krachwoge, die auf das Haus zuzurollen schien. Reggie sprang instinktiv auf, der Zug schien durch das Haus fahren zu wollen. Dann folgte ein höheres Geräusch, als würde eine riesige Hand mit riesigen Fingernägeln über eine riesige Schiefertafel kratzen, und schließlich ein ohrenbetäubender Knall wie ein Donnerschlag. Die Apokalypse war da.
    Und dann … nichts. Das Gasfeuer zischte, Banjo schnarchte und ächzte, der Regen prasselte weiter gegen das Wohnzimmerfenster. Die Erkennungsmelodie von Coronation Street erklang zum Abspann. Reggie, das Buch in der Hand, ein Veilchenbonbon im Mund, stand, noch immer mitten im Wohnzimmer, bereit zur Flucht. Einen Augenblick lang schien es, als wäre nichts geschehen.
    Dann hörte sie Stimmen und zuschlagende Türen, als die Menschen aus den Nachbarhäusern auf die Straße rannten. Reggie öffnete die Haustür und steckte den Kopf hinaus in Wind und Regen. »Ein Zug ist entgleist«, sagte ein Mann zu ihr. »Gleich hinter den Häusern.« Reggie griff zum Telefon im Flur und wählte die Notrufnummer. Dr. Hunter hatte ihr erzählt, dass bei einem Notfall alle immer annahmen, jemand anders würde anrufen. Reggie war keine Person, die von Annahmen ausging.
    »Bin gleich zurück«, sagte sie zu Banjo und zog ihre Jacke an. Sie nahm die große Taschenlampe, die neben Ms MacDonalds Sicherungskasten stand, steckte die Hausschlüssel in die Tasche, zog die Tür hinter sich zu und lief hinaus in den Regen. Die Welt würde diese Nacht nicht enden. Nicht, wenn Reggie etwas dagegen tun konnte.
    Los geht’s, Reggie!

Die himmlische Stadt
    D er Tunnel war weiß, nicht schwarz. Es war eher ein Korridor als ein Tunnel. Er war hell erleuchtet. Und es gab Plastikbänke mit geformten Sitzen, die ein Teil der Wand zu sein schienen. Er saß auf einem Sitz, als würde er auf etwas warten. Das Ganze erinnerte ihn an eine Szene aus einem Sciencefictionfilm. Jackson rechnete jederzeit damit, dass seine Schwester oder sein Bruder auftauchten und ihn aufforderten, ihnen ins Licht zu folgen. Er wusste, es lag an der veränderten Hirnlappenfunktion oder am Sauerstoffmangel im Gehirn, während der Körper den Betrieb einstellte. Oder an einem Überschuss an Ketamin – er hatte irgendwo davon gelesen, National Geographic wahrscheinlich. Dennoch war es eine Überraschung, wenn man es erlebte. Man hätte annehmen können, dass es sich wie ein Klischee anfühlte oder wie ein Traum, aber so war es nicht. Er war entspannt auf eine Weise, wie er es im Leben nie gewesen war. Es war nicht länger wichtig, dass er keine Kontrolle mehr hatte. Er fragte sich, was als Nächstes passieren würde.
    Wie auf ein Stichwort hin saß plötzlich seine Schwester neben ihm. Sie berührte seine Hand und lächelte ihn an.

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