Lebenslügen / Roman
die Verkäufe in die Höhe getrieben hätte, aber stattdessen wurde er eine Art Paria. Er mochte tot und nicht mehr in Mode und vergriffen sein, aber er lebte weiter, im Internet, der Geist in der Maschine.
Wie der Zufall es wollte, hielt sie auf dem Nachhauseweg bei der Oxfam-Buchhandlung in der Morningside Road an und fand ein gebrauchtes Exemplar von Howard Masons erstem, berühmtestem Roman, Der Ladenbesitzer, und las ihn am Abend im Bett fast zu Ende.
»Konnte er schreiben?«, fragte Patrick. Er las irgendeine abstruse medizinische Zeitschrift. (Sollte sie sich mehr für seinen Beruf interessieren? Er interessierte sich immer für ihren.)
»Ja, er konnte schreiben, aber es ist sehr zeitgenössisch. Damals muss es was ganz Neues gewesen sein, aber es ist sehr, ich weiß nicht, nördlich.«
»Schottisch?«
»Mehr wie Samstagnacht bis Sonntagmorgen.«
Howard Mason war ein Gymnasiast aus dem Norden mit einem Stipendium für Oxford und schrieb, als hätte er als Teenager zu viel D. H. Lawrence gelesen. Der Ladenbesitzer, nach dem Studium geschrieben, war eine »beißende Kritik« (gemäß dem Lexikon literarischer Biographien) seiner langweiligen Eltern und seines provinziellen Hintergrunds, eine, wie er stets eingestand, autobiographische Quelle. Louise empfand es als hämischen Rachetext. Die Linie zwischen Fakt und Fiktion war schmal in Howard Masons Leben.
Howard Mason schrieb Der Ladenbesitzer, als er noch unbedarft war, bevor sein Leben zum grand guignol wurde, bevor er drei Kinder zeugte, bevor er Gabrielle Ascher heiratete, schön, klug und reich, mit einem behaglichen Zuhause und einem frohgemuten Wesen. Die letzten drei Attribute verlor sie auf der Stelle, als sie mit siebzehn in Gretna Green die Heiratsurkunde unterschrieb. War Howard Mason eine so schreckliche Wahl, dass ihre Eltern meinten, sie enterben zu müssen? Was geschah nach ihrem Tod, wurde Joanna Mason eine reiche kleine Waise? Fragen über Fragen. Joanna Hunter war Louise unter die Haut gefahren. Sie hatte am Rand des Unfassbaren gestanden, sie war an einem Ort gewesen, den niemand freiwillig aufsuchte, und sie war zurückgekommen. Das verlieh ihr eine geheimnisvolle Macht, um die Louise sie beneidete.
Andrew Decker war, was für eine Überraschung, ein vorbildlicher Häftling gewesen. Er half in der Bibliothek, arbeitete in der Braille-Werkstatt, übertrug Bücher in Blindenschrift, reparierte Rollstühle, alles sehr ehrenhaft. Manchmal sehnte sich Louise nach den Tagen, als Häftlinge endlos in Tretmühlen gehen oder Kurbeln drehen mussten. Pädophile, Mörder, Vergewaltiger, sollten sie wirklich Bücher herstellen? Wenn es nach Louise ginge, würden sie alle eingeschläfert, doch das war natürlich eine Ansicht, die sie bei Besprechungen nicht laut äußerte. (»Warst du schon immer eine Faschistin?«, fragte Patrick und lachte. »So ziemlich«, antwortete sie.)
Andrew Decker hatte das Abitur und an der offenen Universität einen Abschluss in Philosophie (natürlich) gemacht und zeigte keinerlei Anzeichen mehr, dass er jemandem etwas antun wollte. Richtig. Und dreißig Jahre zuvor hatte er eine Familie abgeschlachtet, obwohl er laut seinen Arbeitskollegen »ein ganz normaler Kerl« war. Ja, dachte Louise, vor den ganz Normalen musste man auf der Hut sein. David Needler war normal. Decker war erst fünfzig, ihm blieben möglicherweise noch gute zwanzig Jahre, um normal zu sein. Aber, man sehe die positive Seite – er hatte einen Abschluss in Philosophie.
»Zumindest hat er die volle Zeit abgesessen«, sagte Joanna Hunter. »Das ist schon was.« Aber das war es nicht wirklich, und sie wussten es beide.
»Ich könnte wegfahren«, sagte Joanna Hunter. »Mich für eine Weile entziehen, bis sich die Aufregung gelegt hat.«
»Gute Idee.«
Alison Needler lebte in Livingston wie während einer Belagerung. Sie blieb den ganzen Tag im Haus, wurde bleich, verließ es nur, um die Kinder zu Fuß zur Schule zu bringen. Sie fuhr sie nicht mit dem Auto, weil sie überzeugt war, dass David Needler irgendeinen Mechanismus am Wagen anbringen und sie alle in die Luft jagen würde. David Needler war Baukostensachverständiger und verfügte über keine offenkundigen Sprengstoffkenntnisse, aber Louise nahm an, dass es schwer war, sie wieder loszuwerden, wenn sich die Paranoia einmal im Hirn festgesetzt hatte. Und wer hätte damit gerechnet, dass David Needler eine Pistole hatte und wusste, wie man damit schießt?
Louise wusste nicht, was
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