Lebenslügen / Roman
ihre Kinder zu beschützen. Gabrielle Mason verdiente einen Orden.
Louise war da gewesen, war bei Archie gewesen, als er klein war, auf den leeren Spielplätzen und bei den verlassenen Ententeichen, und hatte plötzlich den krummen Gang des Irren, seinen unsteten Blick gesehen. Keinen Blickkontakt herstellen. Forsch vorbeigehen, keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Irgendwo, in irgendeinem utopischen Nirgendwo lebten Frauen ohne Angst. Louise würde diesen Ort liebend gern sehen.
Alle Frauen verdienten einen Orden.
Im Wohnzimmer der Hunters hatten in einem blauweißen Krug Blumen auf einem Beistelltisch gestanden. Nein, keine billigen, gedankenlosen Treibhausblumen aus Kenia, sondern lange Dinger mit vielen Zweigen aus dem Garten der Hunters – »Duftheckenkirschen und Duftende Fleischbeeren«, sagte Joanna Hunter. »Sie riechen so gut. Es ist schön, im Winter Blumen zu haben.« Louise heuchelte Interesse. Sie vermutete, dass sie aufgrund ihrer Gene unfähig war, Dinge zum Gedeihen zu bringen, dass Wachsenlassen in den Mitochondrien ihrer DNS nicht vorgesehen war. Samantha und Patrick hatten in ihrem alten Haus »gern zusammen gegärtnert«. Louises und Patricks kleiner Garten war vor allem Fertigrasen, umgeben von ein paar langweiligen immergrünen Blumen und Stauden. Louise wusste nicht wirklich, was eine Staude war, sie war nur einmal in ihrem Garten gewesen anlässlich der Einweihungsgrillparty spät im Herbst zum Wohl der Nachbarschaft, darunter zwei altgediente Polizisten, ein Richter und ein Kriminalschriftsteller. Das war Edinburgh.
Die erste Mrs. de Winter, Samantha, hatte ein grünes Händchen gehabt. »Duftwicken, Tomaten, hängende Blumenkörbe, sie liebte den Garten«, sagte Patrick. Sie konnte eine Staude vermutlich aus hundert Schritt Entfernung erkennen. Eine gute Ehefrau.
»Wunderbar«, sagte Louise zu Joanna Hunter und atmete den Duft der Heckenkirschen ein. Sie log nicht, sie rochen wirklich wunderbar. Joanna Hunter war wunderbar, ihr Haus war wunderbar, ihr Baby war wunderbar. Alles an ihrem Leben war wunderbar. Abgesehen von dem Massaker an ihrer Familie.
»So etwas überwindet man nie«, hatte Louise gestern Abend im Bett zu Patrick gesagt.
»Nein, aber man kann’s versuchen«, sagte er.
»Wer hat dich zur Stimme der Weisheit gemacht?«, sagte Louise, aber nicht laut, weil man die Liebe eines guten Mannes nicht wegwarf wie ein Stück Papier, nicht einmal Louise war so abgestumpft, dass sie das nicht begriffen hätte.
Joanna Hunter ging nach oben und kam mit einem Foto zurück, schwarzweiß in einem schlichten Rahmen. Sie reichte es wortlos Louise. Eine Frau und drei Kinder – Gabrielle, Jessica, Joanna, Joseph. Es war ein künstlerisch anspruchsvolles Foto (»Mein Vater hat es aufgenommen«), eine Nahaufnahme, die Gesichter nah beieinander, Jessica lächelte unsicher, Joanna grinste glücklich, das Baby nur ein Baby. Gabrielle war schön, keine Frage. Sie lächelte nicht.
»Ich stelle es nicht auf«, sagte Joanna Hunter. »Ich könnte es nicht ertragen, sie jeden Tag anzusehen. Hin und wieder hole ich es heraus. Und räume es wieder weg.«
Nach dem Mord an seiner Frau hatte Howard Mason mehrmals wieder geheiratet. Was hatten die Nachfolgerinnen für ihre Vorgängerin empfunden? Die erste Frau, Gabrielle – schön, talentiert, dreifache Mutter und noch dazu ermordet –, es war unmöglich, ihrem Beispiel zu folgen. Die zweite Frau, Martina, brachte sich um, von der dritten – der Chinesin (wie alle sie nannten) – ließ sich Howard Mason scheiden, die vierte hatte irgendeinen schrecklichen Unfall, fiel die Treppe hinunter oder setzte sich selbst in Brand, Louise erinnerte sich nicht mehr. Es gab noch eine fünfte irgendwo – eine Südamerikanerin, die ihn überlebte. Louise wäre nicht überrascht, wenn irgendwo noch eine Enthauptung versteckt wäre. Man würde es sich gewiss zweimal überlegen, bevor man »Ja« zu Howard Mason sagte. »Meine liebe Gräfin« – das Gedicht von Browning – kam ihr unwillkürlich in den Sinn. Ihr schauderte.
Im Lauf der Zeit wurde Howard Mason berühmter für seine toten Frauen als für das literarische Talent, das er möglicherweise besaß. Louise hatte keins seiner Bücher gelesen, er hatte vor ihrer Zeit geschrieben. Nachdem sie gestern Joanna Hunter kennengelernt hatte, recherchierte sie seine Bücher bei Amazon, aber sie waren vergriffen. Man hätte meinen können, dass nach den Morden eine gewisse traurige Berühmtheit
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