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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Leben.
    Die Pinnwand schien eine sehr öffentliche Weise, ein Leben zu dokumentieren. Vielleicht war es ihre Art, den Hunderten von Bildern von ihr und ihrer Familie zu begegnen, die für kurze Zeit die Medien überschwemmt hatten. Das ist mein Leben, sagten diese Fotos, das bin ich. Kein Opfer mehr. Verwahrte sie ihr Herz, ihr geheimes Selbst oben, versteckt in einer Schublade? Drei Kinder und eine Mutter in Schwarzweiß.
    Natürlich. » SCUE «. Schützenclub der Universität Edinburgh. Während des Studiums war Louise mit einem Studenten ausgegangen (ein gewählter Ausdruck für das, was passiert war), der im SCUE gewesen war. Wer hätte gedacht, dass Joanna Hunter einst die Annie Oakley der Medizinstudentinnen gewesen war. Sie konnte laufen, sie konnte schießen. Sie war bereit für das nächste Mal.
     
    Als Neil Hunter in die Küche zurückkam, wirkte er erschüttert. Seine Haut hatte einen kränklichen Schimmer angenommen, und Louise fragte sich, ob er Alkoholiker war.
    »Noch einen Kaffee?«, fragte er mit resignierter Miene, aber dann sagte er in einem plötzlichen, unerwarteten Versuch, jovial zu sein: »Oder wäre Ihnen ein kleiner Schluck lieber?« So waren die Glasgower, im einen Augenblick griesgrämig, überfreundlich im nächsten. Die gute Laune war geheuchelt, er war so blass, als würde er gleich ohnmächtig. Was für ein Telefonanruf konnte so eine Wirkung haben?
    »Es ist halb zehn Uhr morgens«, sagte Louise, als Neil Hunter zwei Gläser und eine Flache Laphroaig aus dem Schrank nahm.
    »Na also, es ist praktisch noch Nacht«, sagte er und schenkte sich zwei großzügige Fingerbreit ein. Er hielt die Flasche in der Hand und sah sie fragend an. »Kommen Sie, leisten Sie einem einsamen Mann Gesellschaft beim Katerfrühstück.«

Die berühmte Reggie
    A uf dem Weg in die Wohnung schaute Reggie in Mr. Hussains Laden an der Straßenecke vorbei. Alle nannten ihn den »Paki-Laden«, ein so beiläufiger Rassismus, dass es nahezu liebevoll klang. Mr. Hussain erklärte jedem, der zuhörte (es waren nicht viele), dass er eigentlich Bangladescher war. »Ein Land im Aufruhr«, sagte er einmal düster zu Reggie.
    »Dieses hier auch«, sagte Reggie.
    Reggie dachte an den hübschen indischen Polizisten und fragte sich, ob er auch Bangladescher war. Er hatte wunderschöne Haut, vollkommen makellos wie die eines Kindes, wie die von Dr. Hunters Baby. Dr. Hunter hätte Reggie mitnehmen sollen. Sie hätte sich um das Baby kümmern können, während Dr. Hunter sich um die sogenannte Tante kümmerte.
    »Wie heißt sie?«, hatte sie Mr. Hunter gefragt.
    »Wie heißt wer?«, sagte Mr. Hunter gereizt.
    »Die Tante«, sagte Reggie.
    Mr. Hunter zögerte eine Sekunde, bevor er sagte: »Agnes.«
    »Tantchen Agnes?«
    »Ja.«
    »Oder Tante Agnes?«
    »Ist das wichtig?«, sagte Mr. Hunter.
    »Für die Tante vielleicht.«
     
    Reggie kaufte eine Lokalzeitung und ein Mars. Mr. Hussain tippte auf die Titelseite, während er den Preis in die Kasse eingab. »Schrecklich«, sagte er.
    Die Evening News machte das meiste aus dem Zugunglück, » CARNAGE !«, Blutbad, schrie die Schlagzeile über dem Farbfoto eines Waggons, der nahezu entzweigebrochen war. »Carnage« vom lateinischen carne, Fleisch. Gleiche Wurzel wie »carnival«, Karneval. »Die Wegnahme des Fleisches.« Zwei unterschiedlichere Worte waren kaum vorstellbar. Überall – na ja, vielleicht nicht überall, nicht in Bangladesch zum Beispiel, aber jedenfalls in sehr vielen Ländern – gab es einen Karneval vor der Fastenzeit, aber in Großbritannien gab es nichts außer Pfannkuchen. Der letzte Faschingsdienstag war einer der dunklen Tage zwischen Mums Tod und dem Arbeitsbeginn bei Dr. Hunter gewesen. Dennoch hatte Reggie Pfannkuchen gebacken, allein Rebus geschaut und sie alle aufgegessen. Danach war ihr schlecht.
    Das Foto auf der Titelseite gab überhaupt nicht wieder, wie es gestern Abend gewesen war, im Dunkeln, im Regen. Oder wie es war, wenn einem das Blut eines anderen an den Händen klebte, oder wie es sich anfühlte, wenn das Leben eines Mannes so schwer wie die ganze Welt auf den schmalen Schultern einer einzigen Person lastete.
    »Schrecklich«, stimmte Reggie Mr. Hussain zu.
    Als die Sanitäter endlich kamen, um Reggie die Last abzunehmen, drückte einer dem Mann eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, während ein anderer sein Hemd aufriss und ihm zwei Elektroden auf die Brust knallte. Der Mann zuckte und wand sich zurück ins Leben. Es war so sehr

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