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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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wie eine Episode aus ER , dass es unwirklich schien.
    »Gut gemacht«, sagte ein Sanitäter.
    »Wird er überleben?«
    »Du hast ihm eine Chance gegeben«, sagte er, und dann hievten sie ihn in den Hubschrauber. Und das war’s. Reggie hatte ihn verloren.
    Reggie seufzte, nahm die Zeitung und das Mars. »Ich muss weiter, hab viel zu tun, Mr. H.«
    »Hast du nichts vergessen?«, fragte er. Mr. Hussain schenkte Reggie immer Tic Tac. Sie mochte Tic Tac nicht besonders, aber einem geschenkten Gaul und so weiter. Er schüttelte die Schachtel in der Luft, bevor er sie ihr zuwarf.
    »Danke«, sagte Reggie und fing sie mit einer Hand.
    »Wir sind ein gutes Team«, sagte Mr. Hussain.
    »Total gut.«
     
    Letzte Woche hatte Mr. Hussain ihr die Ausgabe einer Immobilienzeitung von Edinburgh gezeigt, in der stand, dass ihre Gegend im Aufstieg und im Kommen war. »Heiße Gegend«, sagte er pessimistisch. Reggies Genossenschaftsblock war weder im Aufstieg noch im Kommen. Im Hof roch es immer unangenehm, und Reggie war die Einzige, die die Treppe putzte. Der Block stand in einer Sackgasse, an deren Ende sich ein verlassenes, unter Zollverschluss stehendes Lagerhaus befand, die schwarz vergitterten Fenster so finster wie bei Dickens.
    Mr. Hussain sprach von einem Gerücht, dass Tesco das Lagerhaus abreißen und einen neuen Tesco Metro bauen wollte, aber Reggie und Mr. Hussain waren einer Meinung, nämlich dass sie es erst glauben würden, wenn sie es mit eigenen Augen sahen und sich Mr. Hussain wegen der Konkurrenz bis dahin keine Sorgen machen müsste.
    Die Tür zu Reggies Wohnung war nicht schön. Dr. Hunter sagte, dass es die schönsten Türen der Welt in Florenz gäbe, am »Battistero«, das war italienisch für Taufkapelle. Dr. Hunter war mit einem Schülerprogramm sechs Monate in Rom gewesen (»Ah, bella Roma«) und »überall« hingefahren, Verona, Firenze, Bologna, Milano. Dr. Hunter sprach italienische Worte richtig aus, ob es »Leonardo da Vinci« oder »Pizza napolitana« war (Dr. Hunter hatte Reggie zum Geburtstag zum Abendessen eingeladen, Reggie hatte sich für den Pizza Express in Stockbridge entschieden). Reggie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als ein halbes Jahr in Florenz zu leben. Oder in Paris, Wien, Granada, St. Petersburg. Wo immer.
    Auf Reggies Wohnungstür war willkürlich etwas gesprayt, nichts Künstlerisches, von einem Jungen, der eines Abends die Treppe hinauf- und hinuntergegangen war und eine wacklige Schneckenspur roter Farbe hinterlassen hatte. Auf der Wohnungstür waren außerdem Kratzspuren, als hätte eine Riesenkatze versucht, sich mit den Krallen Einlass zu verschaffen (Reggie hatte keine Ahnung, wie das passiert war), und Spuren, die aussahen, als hätte sich jemand eines Abends mit der Axt Zutritt erzwungen (so war es gewesen, auf der Suche nach Billy natürlich). Nichts davon war neu. Neu war ein mit Kaugummi an die Tür geklebter Zettel, auf dem stand: »Reggie Chase – du kanst dich nicht vor uns verstecken.« Mit einem »N«. Sie brauchte eine Weile, um die Botschaft zu lesen, und dann brauchte sie eine Weile, um darüber nachzudenken, warum die Tür nicht verschlossen war. Vielleicht war die Riesenkatze zurückgekommen. Die Tür schwang auf, kaum hatte sie sie berührt.
    War der verantwortungslose, lästige Billy hier gewesen? Er hatte eine Wohnung in the Inch, aber er benutzte ihre Adresse in Gorgie häufig, um die Leute zu verwirren, und schaute gelegentlich vorbei, um nachzusehen, ob er interessante Post hatte. Manchmal gab er Reggie Geld, aber sie fragte nicht, woher es stammte. Eins war sicher, er hatte es nicht verdient, in keinem Sinn des Wortes. Sie zahlte das Geld stets auf ihr Konto bei der Genossenschaftsbank ein und hoffte, dass es sich selbst säubern und Billys Spuren abschütteln würde, indem es dort still lag.
    Reggie stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer und starrte hinein. Ihr Gehirn brauchte eine Weile, um zu verarbeiten, was ihre Augen sahen. Das Zimmer war vollständig verwüstet. Die Schubladen der Anrichte waren herausgezogen und auf den Boden geleert, das Ledersofa war aufgeschlitzt, Mums liebste Nippes waren heruntergefallen und zerbrochen, Fingerhüte und Miniaturteekännchen lagen auf dem Teppich verstreut. Reggies Aufsätze und Notizen waren aus Mappen und Karteikästen gerissen, und ihre Bücher lagen in einem großen Haufen mitten auf dem Wohnzimmerteppich wie ein Lagerfeuer, das darauf wartete, angezündet zu werden. Der Haufen

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