Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
versprechend waren. Heute stehen immer öfter juristische Überlegungen im Vordergrund. Sicherheitshalber sollte man diese und jene Untersuchung noch machen, »aus forensischen Gründen«, wie es dann heißt, also um eventuelle gerichtliche Unbill zu vermeiden. Man erwartet bei der Untersuchung keine auffälligen Ergebnisse, aber wenn man sie nicht macht, kann Ärger drohen. Auch im Krankenhaus, das nach Überweisung die Verantwortung übernimmt, steht der Richter inzwischen im Geiste immer mit im Raum. Ich habe in meiner Ausbildung erlebt, wie ein Patient mit banalen Bauchschmerzen ohne Einweisung vorbeischaute. Eigentlich hätte man ihn ohne weiteres wieder nach Hause schicken können, aber da fragte irgendein Student im Aufnahmeraum laut: »Könnte das nicht vielleicht eine Appendizitis sein?« Die Augen des zuständigen Aufnahmearztes wanderten, begleitet von einem leisen Stöhnen, an die Decke. Eine Appendizitis, also eine »Blinddarmentzündung«, konnte man mit völliger Sicherheit durch einfache Untersuchung nicht ausschließen. Alle hatten die »Verdachtsdiagnose« gehört, ein Risiko wollte der Arzt nicht eingehen, also nahm er den Patienten auf. Am nächsten Tag wurde der Patient wieder entlassen. Er hatte halt nur banale Bauchschmerzen gehabt. So etwas ist inzwischen kein seltener Fall mehr. Diese Entwicklung führt zu einer nahezu unbeschränkten Ausschlussmedizin: Bei einem mehr oder weniger gesunden Patienten, der über ein mildes, aber recht diffuses Symptom klagt, werden immer weitere Untersuchungen gemacht. Die hohe Anzahl der Untersuchungen führt irgendwann naturgemäß, wie wir schon sahen, zu einem pathologischen Wert. Dem geht man dann weiter nach. Viel Klarheit wird dadurch nicht gewonnen. Dem Patienten nützt es auch nichts, er ist sogar der eigentlich Leidtragende dieser unsinnigen Diagnostik. Ein Patient soll einmal lapidar festgestellt haben: »Ich leide unter chronischer Differenzialdiagnose.« Man braucht mehr Erfahrung und fachliche Sicherheit, eine Untersuchung zu unterlassen als sie vorzunehmen. »Die ärztliche Kunst vollendet sich in der Zurücknahme ihrer selbst und in der Freigabe des anderen«, sagt Hans-Georg Gadamer. Doch juristisch gesehen ist es allemal besser, wenn man »etwas gemacht« hat, als wenn man »nichts gemacht« hat. Auf ganz sicherem Weg ist der Arzt damit aber auch nicht. Eine nicht angebrachte Untersuchung stellt im Grunde eine Körperverletzung dar und kann ebenfalls zu Schadensersatzforderungen führen. Allerdings erheblich seltener.
Natürlich gibt es berechtigte Kunstfehlerprozesse, aber die Zunahme juristischer Auseinandersetzungen hat im Wesentlichen mit der religiösen Aufladung des Gesundheitsbereichs zu tun. Wenn das Heil nicht im Jenseits, sondern im Diesseits erreicht werden soll und wenn Gesundheit das höchste Gut ist, dann ist einerseits jede Bemühung um die Gesundheit dringend geboten, andererseits aber jeder Fehler, der dabei unterläuft, nie wieder gutzumachen und absolut unverzeihlich. In den USA führen Kunstfehlerprozesse zu horrenden Millionenentschädigungen. In Europa wirkt das – noch – befremdlich, aber der Aufstieg der Gesundheit zum höchsten Gut hat in einer Welt, die in Geldwert denkt, naturgemäß höchste Preise zur Folge, wenn der Gesundheit Abbruch getan wird. Im Grunde ist sogar jeder Millionenbetrag ein Kompromiss. Die eigentlich angemessene Entschädigung wäre unendlich hoch. Selbst die Einschränkung der Schönheit bei einer Operation dadurch, dass der Bauchnabel um ein Geringes verlagert wurde, führte in Amerika zu Millionenzahlungen. Man hat schließlich nur ein Leben und nur einen Körper.
Der Arzt gerät damit in eine schwierige Lage. Ihm wird eine völlig unmäßige und in ihrer religiösen Übersteigerung unbegründete Hoffnung, ja Verehrung entgegengebracht – Ärzte gehören immer noch zu den angesehensten Berufsgruppen. Andererseits ist jedes Versagen des »göttlichen« Arztes im Arztbild des Patienten gar nicht vorgesehen, ist daher unentschuldbar und wird mit unerbittlicher Heftigkeit verfolgt. Bei alldem muss erneut festgehalten werden, dass kein Arzt, der noch seine Sinne beieinander hat, selbst diese lebensgefährliche Götterrolle sucht, sie wird Ärzten in der Regel aufgedrängt. Der Widerstand der Ärzte kann allerdings etwas variieren.
Sie müssen nämlich zunehmend Gesichtspunkte berücksichtigen, die ihnen früher eher fremd waren. Ärzte haben Marktwert und es herrscht ein erheblicher
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