Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
diese Weise sogar zur Lebenslust einen Beitrag leistet, kann kaum bestritten werden. Besonders deutlich wird diese Ambivalenz des Schmerzes bei dem Lebensvorgang schlechthin, der Geburt. Keine Frau wird die Geburtsschmerzen als schlicht und einfach lustvoll beschreiben. Sie können quälend sein. Aber dennoch machen von der Möglichkeit des Kaiserschnitts nur vergleichsweise wenige Frauen Gebrauch. Viele beschreiben, wie die Freude über das Kind durch die vorangehenden Schmerzen zum Äußersten gesteigert wird. Es ist die geradezu körperlich erlebbare Lust am Leben dieses kleinen Kindes, die den Geburtsschmerz in die Nähe der Lebenslust rücken kann. Kann! Auch hier verbietet sich nämlich jede Ideologisierung, als wäre etwa der Geburtsschmerz für die Freude am Kind erforderlich. Das Erleben der Geburt ist sehr individuell und verträgt keine schlichten Klischees.
4. Leiden als Kraft oder warum der liebe Gott seine Glaubwürdigkeit einbüßte
Schmerzhaft ist die Geburt, aber als leidvoll wird sie die Frau wohl nur in den seltensten Fällen beschreiben. Leid nämlich ist umfassender und betrifft den Menschen vor allem seelisch. Mancher Patient mit einer schweren Depression oder einer erschütternden Lebenskrise, zum Beispiel einem Partnerschaftskonflikt, versichert, er wäre bereit, sich bei lebendigem Leib und ohne Schmerzlinderung ein Bein amputieren zu lassen, wenn damit sein schreckliches Leid beendet wäre. Und das versichern auch Menschen, die durchaus wissen, was Schmerzen sind. Noch mehr also als beim Schmerz wird die erste Reaktion auf Leiden sein: Wegmachen, so schnell wie möglich!
Wie sähe sie aber aus, die Welt ohne Leiden? Es wäre eine Welt ohne persönliche Entscheidungen und ohne Entschiedenheit, eine Welt ohne Literatur und ohne Leidenschaft, eine Welt ohne Sinnlichkeit und ohne Lebendigkeit. Mit anderen Worten: Eine Welt ohne Leiden wäre eine kühle, gleichgültige, saft- und kraftlose Veranstaltung ohne Aufregung, aber auch ohne Anregung. Anästhesie als Weltersatz. Für Menschen in einer solchen Welt wäre Lebenslust ein unübersetzbares Wort wie von einem anderen Stern, und wenn ein unbemanntes Raumschiff dort landen würde mit einem Text an Bord über den Spaß, den das Leben machen kann, dann würden die Menschen aus dem Land der Leidlosen blinzeln, sich öde lächelnd ratlos anschauen und allenfalls etwas irritiert wieder an die anstrengungslose Arbeit für alle gehen.
Denn Spaß setzt zumindest voraus, dass man in der Lage ist, den Moment zu genießen. Das geht aber unter keinen Umständen, wenn man unbedingt jegliches Leiden vermeiden will. Immer bedeutet nämlich das lustvolle Erleben eines bestimmten Moments, dass man nicht gleichzeitig alle möglichen anderen Genüsse genießen kann. Das ist ein unvermeidliches Leiden. Da nämlich die Lebenszeit begrenzt ist, kann man alle möglichen Genüsse auch nicht in einer unendlichen Zeit hintereinander reihen. Und das wiederum bedeutet, dass das Erleben des einen Genusses zur Folge hat, dass man gewisse andere Genüsse endgültig verpasst. Es ist ein Leiden an der vitalen Grenze. Grenzsituationen nennt der Philosoph Karl Jaspers derlei unabwendbare Gegebenheiten des Lebens, wie wir schon hörten. In den meisten Fällen wird man dieses Leiden sogar selbst herstellen. Wenn man sich nämlich für den einen Zeitvertreib entscheidet, entscheidet man sich zugleich gegen einen anderen. Denn wenn sie einmal vertrieben ist, die Zeit, kann man sie nicht ein zweites Mal vertreiben. Das ist logisch. »Choisir, c’est abandonner« (Wählen, das bedeutet etwas aufgeben), sagen die Franzosen. Nicht nur die Lebenslust, auch die Entschiedenheit einer selbstbewussten Lebensführung ist ohne Leiden nicht zu haben. Wer zwischen verschiedenen Gütern entscheidet, entscheidet sich immer gegen ein Gut. Das ist auch logisch, das bedeutet auch Leiden, aber ohne eine solche Entschiedenheit nennt man einen Menschen sogar lebensuntüchtig.
Es gäbe nur eine Möglichkeit, Leiden zu vermeiden, das wäre die Haltung völliger Gleichgültigkeit gegenüber allen denkbaren Zielen und also auch gegenüber den Genüssen, die das Leben so zu bieten hat. Und damit wären wir wieder in der übel riechenden Tonne des Diogenes von Sinope gelandet. Eines freilich ist sicher: Was Spaß und Lebenslust betrifft, war bei Diogenes absolut tote Tonne. Übrigens ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Diogenes mit seiner Tonne nicht ein einziges Mal ins Theater gerollt ist, um
Weitere Kostenlose Bücher