Lebenssonden: Roman (German Edition)
Kopf herbei. Sie bekam einen trockenen Mund, als sie sich bewusst wurde, dass sie zu viel Geschwindigkeit aufgenommen hatte. Sie war schon zu nah am Ausflugsboot und würde mit einer solchen Wucht dagegenstoßen, dass sie für den Rest ihres Lebens Plattfüße hätte.
Im Bewusstsein, dass sie keine Chance hatte, rechtzeitig zu stoppen, ging sie dennoch auf Vollschub. Dabei hörte sie das Knistern einer statischen Entladung im Raumanzug, und am ganzen Körper sträubten sich ihr die Haare. Ungläubig sah sie, wie das Ausflugsboot plötzlich seitlich auswich und sie auf das Sternenschiff zuflog. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie nach einer Erklärung für diesen Vorgang suchte. Sie musste doch eine 50- g -Kehre ausgeführt haben und hatte trotzdem nicht die geringste Beschleunigung verspürt.
Wer auch immer sie waren, sie hatten sie.
Chryse trat bereits in den Schatten des Sternenschiffs ein, als dessen Masse die Sonne verfinsterte. Chryse spürte eine Kälte, die nichts mit dem plötzlichen Temperaturabfall außerhalb des Raumanzugs zu tun hatte. Sie bemerkte eine Dampfentwicklung vor der Gesichtsplatte und wurde sich bewusst, dass der Rückentornister noch immer mit Vollschub feuerte. Wie auch immer der Strahl beschaffen war, er schien ihre Abgase in der Nähe des Anzugs zu sammeln. Sie deaktivierte den Antrieb.
Dann bremste sie genauso abrupt ab, wie sie den Flug begonnen hatte. Und wieder spürte sie keine Beschleunigung. Eben hatte sie noch einen unfreiwilligen Kurs eingeschlagen, und nun hing sie bewegungslos vor einer geschlossenen Luftschleuse. Danach öffnete sich die Luftschleuse, und ganz normales Licht strömte heraus. Die Silhouetten zweier Gestalten erschienen im Licht. Sie starrte sie an, und plötzlich quollen ihr heiße Tränen aus den Augenwinkeln.
Die charakteristische Form der Raumanzüge, die die zwei Wesen trugen, war unverkennbar. Sie waren zweiachsig symmetrisch, hatten einen Knubbel mit Sinnesorganen auf einem kurzen, beweglichen Stiel, und jeweils zwei Greif- und Fortbewegungs-Anhängsel sprossen aus einem dicken Rumpf. Mit anderen Worten …
Sie waren genauso menschlich wie Chryse selbst!
33
Gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts veröffentlichte Andrea Sardi, die berühmteste Soziologin der Erde, ein wissenschaftliches Papier, das ihr Opus Magnum werden sollte . Ihre Theorie lautete, dass keine menschliche politische, wirtschaftliche oder religiöse Einrichtung mehr als sechs Generationen überdauerte und dass alle Beweise des Gegenteils pure Illusion seien. Zur Unterstützung ihrer These wies Frau Sardi darauf hin, dass die Vereinigten Staaten von 2095 nicht mehr die von 1776 seien, genauso wenig wie die katholische Kirche von 1850 noch Ähnlichkeit mit der des Jahres 850 n. Chr. hätte.
Es nahm also kaum wunder, dass – dreihundert Jahre, nachdem Pathfinder das Sonnensystem verlassen hatte – fast jeder die Procyon-Expedition für gescheitert hielt. Natürlich war niemand im Sonnensystem in der Lage, die Kolonisten zu fragen, was sie von einer solchen Annahme hielten. Zumal die zehnte Generation von Menschen, die Alpha Canis Minoris VII bewohnten (kurz Alpha), das Opus Magnum der berühmten Dame auch gar nicht studiert hatten.
Die diesbezüglich im »Tal der Ahnungslosen« hausenden Kolonisten hatten eine Gesellschaft gegründet, deren stärkste Triebfeder der Abschluss der Suche war, die ihre Vorfahren begonnen hatten. Für einen Alphaner war das Ziel des überlichtschnellen Raumflugs der heiligste aller Grale.
So näherten sich die Besatzungsmitglieder des Sternenschiffs Procyon’s Promise dem Sonnensystem mit einem starken Sinn für das Schicksalhafte. Nirgends war die Aufregung stärker zu spüren als auf der Brücke des Sternenschiffs, wo Kapitän Robert Braedon auf seinem Kommandantensitz saß und der wie Kinder plappernden Crew zuhörte, während sie sich dem Ausbruchspunkt näherten.
Braedon schaute nachdenklich nach oben. Die Brücke wurde von einer zehn Meter durchmessenden freitragenden Kuppel aus Panzerglas überwölbt, das liebevoll zur optischen Perfektion poliert worden war. Jenseits des Glases war Dunkelheit – die unergründliche, absolute Schwärze, die den Flug mit Geschwindigkeiten schneller als das Licht begleitet.
Als Pathfinder I ins System von Procyon vorstieß, fand die Besatzung keine Spur von der ausgedehnten FTL-Zivilisation, die man erwartet hatte. Was die Kolonisten stattdessen – auf einem Inselkontinent in der
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