Lee, Julianne
sie quer über den Burghof in die große Halle und kehrte dann in ihre Kammer zurück.
Ciaran sah ihr nicht nach, sondern konzentrierte sich auf die Holzsplitter, die er in der Hand hielt, bis sie verschwunden war. Dann seufzte er tief und schalt sich insgeheim einen Narren. Wie hatte er nur so grausam sein können, ein junges Mädchen zu verletzen, das ihm nichts zu Leide getan hatte! Er stand auf, um ihr nachzugehen, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn er gesehen wurde, wie er der Tochter des Captains über den Burghof folgte, könnte es Gerede geben. Der Himmel mochte wissen, sie hingelaufen war, und es wäre der Gipfel der Torheit, sich ihrem Verbleib zu erkundigen.
Also ließ er sich wieder auf den Stuhl sinken und lehnte den Kopf gegen die Wand. Wenn ihm doch statt der Tochter der Captain selbst über den Weg gelaufen wäre!
Als Leah an diesem Abend zu Bett ging, dachte sie angestrengt über all das nach, was Ciaran zu ihr gesagt hatte - nicht so sehr über seine Worte, sondern über die Art, wie er mit ihr gesprochen hatte. Er hatte ihr viele verletzende Dinge an den Kopf geworfen, aber er hatte nicht mit ihr geredet wie mit einem unmündigen Kind. Er schien angenommen zu haben, dass sie ihm gewachsen war.
Aber sie hatte ihm nicht die Stirn geboten, sondern war wie das dumme kleine Mädchen, das sie nicht sein wollte, Hals über Kopf geflüchtet. Während ihr Ida das Haar kämmte, glühten ihre Wangen vor Scham. Was musste Ciaran von ihr denken? Vermutlich hatte er über ihre Flucht nur verächtlich gelächelt. Nach dieser Begegnung würde er sie wohl kaum noch als eine erwachsene Frau betrachten.
Mutter hatte sich nie so töricht benommen, jedenfalls nicht, soweit sie sich erinnern konnte. Mutter hatte immer ihren eigenen Standpunkt vertreten und sich auch Vater gegenüber behauptet. Nie hatte sie klein beigegeben. Nie hatte Leah sie anders als makellos perfekt erlebt. Jedes Haar hatte an seinem Platz gelegen, keine Falte ihr Kleid verunziert. Stets hatte sie Vater in dem Glauben gelassen, er sei der Herr im Haus, obwohl in Wirklichkeit sie die Zügel in der Hand gehalten hatte. Mutter hatte aus ihnen dreien eine Familie gemacht, trotz Vaters häufiger Abwesenheit und der ständigen Gefahren, denen er als Offizier ausgesetzt war. Sie hatte mit ihm in einer Sprache gesprochen, die er verstand. Einer Sprache, der sie, Leah, nie mächtig gewesen war.
Aber nun war Mutter tot, und seit über einem Jahr hatte sich Leah Vater gegenüber nicht mehr durchsetzen können. Und nie sprach er mit ihr über ihre Mutter; so, als hätte sie nie gelebt. Er tat so, als existiere die Lücke nicht, die Mutters Tod in ihr Leben
gerissen hatte, ging wie immer seinem Tagewerk nach und schien nicht bemerken zu wollen, wie sehr seine Tochter sich verändert hatte. Wenn er ihr doch nur ein Mal ruhig zuhören würde!
Leah fasste einen Entschluss. Sie schickte Ida zu Bett, streifte ihren Morgenrock über ihr Nachthemd, schlang ihn zum Schutz vor der Kälte eng um sich, trat auf den Gang hinaus und ging zur Kammer ihres Vaters hinunter.
Zuerst erhielt sie auf ihr Klopfen keine Antwort Ihre zarte Hand verursachte kaum ein Geräusch auf der schweren Eichenholztür, als sie ein zweites Mal anklopfte, doch diesmal erklang drinnen die Frage: »Wer ist da?«
Leah bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. »Ich bin es, Vater. Ich möchte mit dir sprechen.«
Vater antwortete nicht, aber sie hörte ihn durch den Raum gehen. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. »Leah?« Er trug einen schweren blauen Morgenrock aus Seidenbrokat mit Samtbesatz und Strümpfe, jedoch keine Schuhe oder Pantoffeln. Die Perücke hing auf einem Ständer. Sein eigenes stahlgraues Haar war kurz und widerspenstig, aber nicht schütter genug, um ihn zum Tragen einer Perücke zu zwingen, das tat er nur, um sich der herrschenden Mode anzupassen. Ohne Perücke wirkte er viel jünger; nicht mehr so Furcht einflößend, fast wie ein ganz gewöhnlicher Mann, und sie schöpfte wieder Mut
Nicht zum ersten Mal fiel ihr auf, wie gut er aussah. Er strahlte ein Selbstvertrauen aus, um das sie ihn beneidete, obwohl es ihr Angst einjagte. »Vater, hast du Zeit für mich? Ich möchte mit dir reden.«
»Worüber denn, Kind?«
Sie senkte den Blick und hoffte, er würde ihre hochroten Wangen im Dämmerlicht nicht bemerken. »Darf ich hereinkommen? Es ist kalt auf dem Gang.«
Ihr Vater trat zur Seite, und sie ging hinein. Der Raum war ähnlich
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