Lee, Sharon & Miller, Steve - Liaden 1 - Eine Frage der Ehre V2
an wurde sie breiter und fiel exakt bis auf den Spann der neuen schwarzen Stiefel. Sie schlang den Gürtel aus gepunztem Leder um die Taille, schloss die Schnalle aus rosafarbenem Achat und wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu.
»Thodelm«, flüsterte sie, berührte den Kragen, der ihren Wangen Farbe verlieh. Lina hatte für sie eine Garderobe ausgesucht, die das Oberhaupt einer Liadenfamilie bei einem offiziellen Anlass tragen würde, wenn es um die Belange der Sippe ging.
Zögernd näherte sie sich dem Spiegel und zog mit einem Finger ihre Gesichtszüge nach: schmale Augenbrauen, gerade Nase, ausgeprägte Wangenknochen, störrisches Kinn, volle Lippen – alles eingerahmt von eine wilden Mähne mitternachtsschwarzer Locken, nur durchbrochen von den schlichten Platinreifen in ihren Ohrläppchen.
»Priscilla Mendoza«, sagte sie laut.
An ihrer Hand glitzerte der geborgte Amethyst – was nicht in Ordnung war. Sie war keine Meisterin des Handels.
Aber sie war auch keine Verfemte.
Sie starrte auf ihr Spiegelbild und grübelte darüber nach. »Moonhawk ist zur Mutter heimgekehrt.«
So lautete die Wahrheit.
Aber was bedeutete diese Wahrheit nach zehn Jahren, nach zwei Dutzend Welten – nach einem Tod? Was bedeutete sie hier, an dem Ort, den sie in ihrem Herzen als ihre Heimat betrachtete, umgeben von Freunden, getragen von einer Kraft, die sie bereits verloren geglaubt hatte?
Dieser alte Gentleman bestand darauf, sie stets mit Lady Mendoza anzureden, in einem Ton äußersten Respekts. Lina hatte sich keineswegs gewundert, dass ihre Freundin über mediale Kräfte verfügte; sie staunte lediglich, dass man ihr nicht beigebracht hatte, dieses Talent sensibel einzusetzen. Shan …
In gewisser Weise gab Shan ihr immer noch Rätsel auf. Offenbar hielt er ihre Fähigkeiten, wie seine eigenen, für etwas völlig Natürliches, das man gutheißen konnte. Sie entsann sich, dass er sie verblüfft gefragt hatte, wie die Leute auf Sintia sich denn liebten: »Was macht ihr, wenn ihr euch körperlich liebt?« Sie legte eine Hand an ihre Wange, die plötzlich glühte wie im Fieber. Nicht doch, Priscilla …
Die vergangene Nacht … Was war Traum gewesen, erzeugt von der Droge, und was Wirklichkeit? Er war zu ihr gekommen – den Beweis dafür, seinen Meisterring, trug sie immer noch an ihrer Hand. Aber was hatte sich außerdem noch in der Realität abgespielt?
Verstört drehte sie sich um und verließ das Zimmer.
Draußen auf dem Gang blieb sie zögernd stehen. Es wurde Zeit, dass sie sich zum Dienst meldete. Aber Vilt hatte sie noch nicht aus der Krankenstation entlassen, und die Kleidung, die sie trug, würde die Arbeit, die ein Zweiter Maat zu leisten hatte, nicht unbeschadet überstehen.
»Hallo, Priscilla. Haben Sie einen Augenblick für mich Zeit?«, riss Shan sie aus ihren Gedanken.
»Ich habe alle Zeit der Welt«, erwiderte sie glücklich, während sie nach seinem Bewusstseinsmuster tastete.
Es war nur schwach wahrnehmbar, obwohl sie einen undefinierbaren emotionalen Schub spürte, als er stehen blieb und sie prüfend ins Auge fasste.
»Wie geht es Ihnen, Priscilla? Ich möchte eine ehrliche Antwort – kein Heldenmut mehr.«
»Nun ja«, sie merkte ihm seine Skepsis an, ging unbewusst einen Schritt auf ihn zu und lächelte. »Ich habe ein bisschen abgenommen – starke Magie hat diesen Effekt auf Menschen. Vilt verlangt von mir, dass ich unglaubliche Mengen an Nahrung vertilge. Aber es geht mir gut. Ich hatte vor, die Krankenstation zu verlassen und mich wieder zum Dienst zu melden.«
»Dienst? Priscilla …« Er blickte sich um. »Ist das Ihr Krankenzimmer? Könnten wir vielleicht hineingehen und dort unser Gespräch fortsetzen? Ich …«
Etwas stimmte nicht. Sie erweiterte ihren mentalen Radius, versuchte, in seinem verschwommen sich darbietenden Muster zu lesen, aber sie empfing nur eine dissonante Mischung aus Schmerz, Bitterkeit, Wut und Verzweiflung. Diese Ausstrahlung war so unüblich für Shan, dass sie ihn nicht erkannt hätte, hätte sie mit geschlossenen Augen vor ihm gestanden.
»Natürlich.«
Er ließ ihr den Vortritt; hinter sich schloss er die Tür und ließ sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer fallen. Verunsichert setzte sie sich auf das Bett.
Es herrschte ein unbehagliches Schweigen; ein Scannen war unmöglich. Sie zog den Meisterring von ihrem Daumen und reichte ihn Shan.
Er blickte darauf, und seine Verzweiflung wuchs. Dann nahm er den Ring, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger
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