Lee, Sharon & Miller, Steve - Liaden 1 - Eine Frage der Ehre V2
wenigsten gefährlichen Linie vorwärts; um ein Haar hätte sie aufgeschrien, als Priscilla die Tür fest vor ihr verschloss.
Die Tür zur Bibliothek ging auf, und eine großgewachsene, breitschultrige Person kam hereingeschlendert; mitten im Raum blieb der Mann stehen, nippte an dem Glas, das er in der Hand hielt, und betrachtete sinnend die über das Hauptterminal gebeugte Gestalt. Es dauerte rund fünf Minuten, ehe sich Lina mit einem scharfen Seufzer zurücklehnte und in dem lässigen Tonfall, wie er zwischen alten Bekannte üblich ist, ihren Gast ansprach. »Sagen Sie, mein Freund, gibt es bei den Terranern so etwas wie Heiler?«
Der Mann setzte eine nachdenkliche Miene auf und trat näher an das Terminal heran. »Nicht offiziell, glaube ich.« Er bückte sich ein wenig, um auf den Monitor sehen zu können, und schüttelte den Kopf. »Sie suchen nach dem Begriff ›Empath‹, meine Teuerste. Er ist unter ›paranormale Phänomene‹ aufgeführt.«
»Paranormale Phänomene!« Lina funkelte ihn empört an.
»Ich habe das Lexikon nicht erstellt«, wiegelte Shan ab. »Ich wollte Ihnen nur bei der Recherche helfen. Unter diesem Oberbegriff entdeckte ich ihn, als ich mich selbst ein bisschen damit beschäftigte.«
Lina vergegenwärtigte sich, dass er vor ein paar Jahren gleichfalls mit einem Problem zu tun hatte, das dem glich, mit dem sie sich nun befasste. Sie lächelte versöhnlich. »Entschuldigung. Aber ich habe viel gearbeitet und wenig erreicht. Ich bin einfach … gereizt.«
Er deutete eine Verneigung an. »Vielleicht kann ich Ihnen Erleichterung verschaffen. Ich könnte dazu beitragen, dass Sie sich wieder entspannen.«
»Das wäre gut möglich.« Sie lächelte abermals, hob die Hand und strich flüchtig über seine glatte Wange. »Seien Sie bedankt, Bettgenosse und Kollege. Aber zur Zeit möchte ich nicht auf dieses großzügige Angebot eingehen. Ein anderes Mal komme ich eventuell gern darauf zurück …«
»Ich freue mich schon darauf.« Er kostete von dem Wein. »Bleiben Sie bitte nicht die ganze Schicht auf den Beinen, Lina. Gönnen Sie sich etwas Ruhe.«
»Bah! Und ausgerechnet Sie geben mir diesen Rat? Oder benötigt ein Captain keinen Schlaf?« Sie kicherte, wurde aber gleich darauf wieder ernst. »Kayzin hat sich bei mir beschwert, weil Priscilla auf einen Posten versetzt wurde, den sie eigentlich nicht bekleiden darf.«
»Das habe ich gehört.« Shan wiegte den Kopf. »Was verlangt Kayzin von mir? Zuerst verkündet sie, dies sei ihre letzte Reise, und ich solle von ihr keine Entscheidungen mehr verlangen, die künftige Touren betreffen; und kaum habe ich einmal nicht ihre Einwilligung eingeholt, da überhäuft sie mich auch schon mit den schwersten Vorwürfen. Ich sage Ihnen eines, Lina, Captain zu sein ist wahrlich kein Zuckerschlecken.«
»Ich fühle mit Ihnen«, gluckste sie scheinheilig und bemühte sich, nicht laut loszuprusten.
Er grinste und hob sein Glas. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren Recherchen, Meisterbibliothekarin. Und schlafen Sie gut, wenn Sie sich denn irgendwann einmal dazu durchringen können, Ihr müdes Haupt niederzulegen.«
»Ich wünsche auch Ihnen einen erholsamen Schlaf, Shan.«
Doch er hörte sie nicht mehr; er hatte die Bibliothek bereits verlassen.
Schiffsjahr, 65 Reisetag 139, Dritte Schicht, 16.00 Uhr
G eschmeidig durchbrach die Dutiful Passage den Orbit, begab sich auf der akribisch berechneten Bahn im Normalraum zum Absprungspunkt und trat ohne die geringste Erschütterung in den Hyperraum ein.
Priscilla durchlief die letzten Kontrollen, bestätigte noch einmal das Ziel und die Ankunftszeit, dann schaltete sie die Armaturen aus und lehnte sich zurück. Nur mit Mühe verbiss sie sich ein Lächeln.
»Nicht schlecht, Mendoza«, meinte Janice Weatherbee, die auf dem Kopilotensessel saß. Sie warf einen Blick auf das in die Konsole eingelassene Chronometer. »Das war’s dann. Wir sehen uns später.«
»In Ordnung«, erwiderte Priscilla abwesend und starrte immer noch auf den grauen, leeren Bildschirm. Dieses Mal war es nicht der Simulations-Monitor, sondern der Hauptschirm auf der Brücke, und sie, Priscilla Delacroix y Mendoza, hatte das Schiff ganz allein gesteuert. Sie hatte den Kurs gesetzt, die Gleichungen ausgearbeitet, die Koordinaten gewählt -kurzum, sie hatte selbstständig die Führung des Schiffs übernommen.
Sie schloss die Augen und genoss das Gefühl, etwas Bedeutendes vollbracht zu haben. Es tat gut, sich selbst
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