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Leg dich nicht mit Mutti an: Roman (German Edition)

Leg dich nicht mit Mutti an: Roman (German Edition)

Titel: Leg dich nicht mit Mutti an: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Völler
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wie aus dem Nichts das Frettchen in mein Blickfeld geriet. Er trug eine knallgelbe Badehose und war so klapperdürr, dass man seine Rippen sah. Entweder hatte er meine fassungslosen Blicke gespürt oder meinen unterdrückten Schreckenslaut gehört, denn er drehte sich langsam zu mir um.
    Mein Mund klappte auf und zu, weil ich nicht wusste, was wichtiger war: Schreien oder Luft holen. Leider schaffte ich weder das eine noch das andere, jedenfalls nicht in der einen Sekunde, die er brauchte, um mit einem gewaltigen Satz auf mich loszuspringen und mich grob ins Wasser zu schubsen. Obwohl es kaum hüfttief war, versank ich rücklings in dem wirbelnden Nass und bekam so viel davon in Mund und Nase, dass ich einen Moment brauchte, um herauszufinden, wo oben und wo unten war. Immerhin wählte ich dann die passende Richtung zum Auftauchen. Nach Luft schnappend durchstieß ich die Wasseroberfläche, spuckte etliche Mundvoll von der warmen Chlorbrühe aus und wischte mir die triefenden Haare aus den Augen. Um mich herum waren lauter fröhlich kreischende Kinder, außerdem ein paar Mütter und Väter.
    Von dem Frettchen sah ich nichts. Doch! Da drüben! Er rannte weg! Ein grellgelber Fleck verschwand im Gewimmel der Badegäste.
    Hastig watete ich zum Beckenrand und überlegte dabei fieberhaft, was ich jetzt machen sollte. Ich könnte etwas schreien wie Haltet den Kerl in der gelben Badehose !, oder ich könnte zum Bademeister laufen und ihm erklären, dass sich ein Bankräuber im Schwimmbad versteckte. Oder einfach von meinem Handy aus die Notrufzentrale oder Tobias anrufen.
    Irgendetwas davon hätte ich sicher getan. Wenn nicht in diesem Augenblick ein kleiner Junge von höchstens fünf Jahren hinter dem Frettchen her gerannt wäre. Er trug die gleiche grellgelbe Badehose und sah auch sonst aus wie eine Miniaturausgabe des Frettchens, mager und mit Überbiss und flusigen braunen Haaren.
    »Papa!«, schrie der Kleine. »Wo willst du denn hin? Warte auf mich!«
    Und dann waren sie beide im Gewühl verschwunden, Vater und Sohn.
    Zitternd stemmte ich mich aus dem Becken und lief ein paar Schritte in die Richtung, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Doch dann blieb ich wie betäubt stehen, denn auf einmal hatte ich eine glasklare Zukunftsvision vor Augen. Papa Frettchen im Knast, für mindestens fünf Jahre eingekerkert wegen schweren Raubs und versuchten Totschlags (Tobias hatte mir versichert, dass der Täter auf keinen Fall mit weniger davonkäme), und Klein-Frettchen allein daheim, vaterlos, chancenlos, hoffnungslos. Frau Frettchen würde sich vielleicht einen Kerl wie Olaf zulegen, der sie bei jeder Gelegenheit verprügelte und in der restlichen Zeit ihre spärlichen Hartz IV-Bezüge für Automatenspiele und Bordellbesuche ausgab. Klein-Frettchen würde schwer traumatisiert auf die Sonderschule abgeschoben, dann in die Kriminalität abrutschen und dabei schnell der Drogensucht anheimfallen. Wenn sein Vater endlich aus dem Knast kam, säße er selber schon das erste Mal drin, ein tätowierter Analphabet mit Karnickelzähnen (es würde sich ja niemand für die Hinzuziehung eines Kieferorthopäden verantwortlich fühlen) und schweren Depressionen. Und ich wäre an allem schuld, weil ich damals, als er noch ein glücklicher, argloser kleiner Junge in einer gelben Badehose gewesen war, seinen geliebten Papa verraten hatte.
    Fröstelnd schlang ich beide Arme um mich und ging stumm zurück zu meiner Familie.
    *
    Diese unvorhergesehene Begegnung hing mir den ganzen Tag nach. Hinzu kam, dass der Anblick des Frettchens erneut eine Art Déjà-vu-Gefühl in mir ausgelöst hatte, diesmal sogar noch stärker als vorher. Ich war so sicher , dass ich den Typ kannte, und zwar nicht von irgendwelchen Schreibworkshops, sondern aus einer Zeit, die weiter zurücklag. Je mehr ich darüber nachdachte, umso intensiver wurde dieses Gefühl, doch sosehr ich mir auch den Kopf zerbrach – ich konnte mich einfach nicht erinnern, wann und wo ich ihm in früheren Jahren begegnet war.
    Helga fragte mich wiederholt, was mit mir los sei.
    »Vielleicht hättest du nicht so bald nach deiner Erkältung ins Schwimmbad gehen dürfen«, meinte sie besorgt. »Ich werde dir ein heißes Fußbad machen!«
    »Ein heißer Typ würde ihr eher guttun«, sagte meine Mutter. »Für die Stärkung der Abwehrkräfte gibt es nichts Besseres.«
    Helga schnappte nach Luft. »Lieselotte!«
    »Ich brauche nichts«, sagte ich, unaufhörlich weitergrübelnd. Nur ein besseres

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