Leg dich nicht mit Mutti an: Roman (German Edition)
dieser Eunuchen-Grenzerfahrung offensichtlich zeugungsfähig geblieben war. Wobei ich mich an Klein-Frettchens Stelle ernsthaft fragen würde, ob das wirklich ein Grund zur Freude war.
Und das Stottern hatte Hannes auch nicht abgelegt, jedenfalls nicht vollständig, denn sonst hätte er in Krisensituationen wie beispielsweise einem Bankraub nicht weiterhin auf das Notizbuch zurückgreifen müssen.
Manche Dinge änderten sich eben nie.
*
Am nächsten Morgen fing es zu meinem Entsetzen während der Redaktionssitzung an zu nieseln. Ich saß mit den Kollegen am großen Hufeisentisch im Konferenzraum und sprang sofort auf, als ich die winzigen Tropfen an der großen Glasfront sah. Mit drei Schritten war ich beim Fenster und starrte hinaus. Schon am Morgen hatte der Himmel deutlich bedeckter ausgesehen als die letzten Tage. Jetzt war es so weit. Das Schicksal schlug zu.
»O mein Gott!«, stöhnte ich.
Sofort scharten sich einige Kollegen um mich.
»Hat es einen Unfall gegeben?«, rief jemand.
»Ich sehe nichts«, sagte Niklas, unser Praktikant.
»Ich auch nicht«, meinte meine Kollegin Katja.
»Bloß den Regen«, sagte Jens. »He, Annabell, wo willst du hin?«
Ich hatte mir schon meine Handtasche geschnappt und war auf dem Weg nach draußen. »Es ist ein Notfall!«, schrie ich über die Schulter zurück. Mit quietschenden Reifen und unter Missachtung aller Geschwindigkeitsbegrenzungen raste ich nach Hause. Es war mir egal, dass eine Amtsperson mir folgte und sogar bei Rot über die Ampel brettern musste, weil ich noch bei Dunkelorange drübergerast war. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Tobias die Personenschutzmaßnahmen aufheben wollte, doch heute Morgen hatte wieder ein Beamter im Zivilfahrzeug vorm Haus gewartet. Und dabei hatte ich Tobias gar nichts von meiner neuen Begegnung mit Hannes dem Frettchen erzählt. Ich brachte es nicht über mich, weil ich immer an den armen kleinen Jungen denken musste. Ich malte mir in allen Einzelheiten aus, wie er vor seiner Mutter stand (inzwischen wusste ich, dass sie Roswitha hieß, ich hatte im Telefonbuch nachgesehen: Hannes und Roswitha Schmöckler, sogar die Adresse stand drin!) und fragte: »Mama, wann kommt denn Papa endlich wieder heim?«
»Erst, wenn du erwachsen bist, Klein-Frettchen.«
»Aber das dauert doch noch viele Jahre!«
»Daran ist diese böse Frau schuld. Sie hat alles kaputt gemacht.«
»Ich hasse die böse Frau!«
Wie auch immer, ich war erleichtert, dass ich noch bewacht wurde. Jedenfalls so lange, bis Hannes endgültig davon überzeugt war, dass ich nichts gegen ihn unternehmen würde.
Allerdings hatte ich mir eine Sicherheitsoption geschaffen, indem ich Berit alles erzählt hatte. Sie war zutiefst schockiert und hatte auf der Stelle klare Verhältnisse schaffen wollen.
»Wenn du Tobias Anders nicht informieren willst, tu ich es!«
»Nein, das geht nicht! Denk an das Kind!«
»Du hast auch Kinder, an die du denken musst! Wenn dieser Hannes dich doch noch kaltmacht, sind sie Vollwaisen!«
»Das wird er nicht, denn ich unternehme ja nichts gegen ihn.«
»Woher soll er das wissen?«
»Das merkt er logischerweise daran, dass er immer noch nicht verhaftet ist.«
»Vielleicht wartet er bloß, bis der Personenschutz abzieht.«
Da war natürlich was dran. Besorgt erwiderte ich ihren Blick. »Gut«, meinte ich schließlich widerstrebend. »Wenn es so weit ist, rede ich mit Tobias darüber.«
»Versprich es mir!«
»Ja doch, ich versprech’s. Er will heute sowieso vorbeikommen.«
Er hatte mir eine SMS geschrieben und gefragt, ob es mir passte, wenn er am Nachmittag vorbeischaute. Ich hatte nur ein Wort zurückgeschrieben: JA! In Großbuchstaben und mit Ausrufezeichen. Auf sein Kommen hatte ich mich die ganze Zeit gefreut, jedenfalls bis es angefangen hatte zu regnen. In der Einfahrt hatte sich bereits eine Pfütze gebildet. Nur eine kleine, aber sie war tief genug, um nach allen Seiten Wasser hochspritzen zu lassen, als Spike in vollem Lauf hindurchpreschte und freudig kläffend an mir hochsprang, um mein Gesicht abzulecken. Überall an meiner Vorderseite waren seine nassen, schmutzigen Pfotenabdrücke zu sehen, doch ich achtete kaum darauf. Voller Angst um mein Dach rannte ich in den Garten und stellte mich ganz hinten an den Zaun, von dort hatte ich freie Sicht nach oben. Am liebsten hätte ich das Gerüst erklommen und mich schützend über das Dach gelegt. Die Pappe sah nass aus. Sehr nass. Klar, schließlich regnete es.
»Eigentlich
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