Leg dich nicht mit Mutti an: Roman (German Edition)
Gedächtnis.
Die Aufklärung kam von unerwarteter Seite. Am frühen Abend bekam ich Überraschungsbesuch: Ines schneite herein, umweht von Edelparfüm und mit einem Ordner unterm Arm, den sie strahlend auf dem Couchtisch ablegte. »Sieh mal! Das habe ich dir mitgebracht!«
Zuerst glaubte ich, es handle sich um die Unterlagen für mein Mandat, die sie auf dem Wege wieder loswerden wollte. Doch es stellte sich heraus, dass sie allen möglichen alten Kram aus unserer Schulzeit mitgebracht hatte, lauter ordentlich abgeheftete Klarsichthüllen mit Fotos, vergilbten Matritzenabzügen von Einladungen zu Klassenfahrten, Elternabenden und Schulfeiern, ausgeschnittenen Berichten aus der Schülerzeitung über Aktivitäten wie Sportfeste, Musikveranstaltungen, Lehrerverabschiedungen oder Stufentreffen und dergleichen mehr. Sie hatte sogar alte Klassenlisten mit den Namen der Schüler ausgegraben und abgeheftet.
Mit leuchtenden Augen führte sie mir ihre Schätze vor. »Stell dir vor, meine Mutter hat all das für mich aufbewahrt!« Sie lächelte entzückt. »Wir könnten eine Art Jubiläumszeitung daraus machen. So richtig nostalgisch! Das wäre der Hit!«
Mit Wir meinte sie natürlich mich. Was der Beweis dafür war, dass man die Wir-Form nicht nur zum Aufbauschen von Kleinkram, sondern auch zur Verschleierung der Realität benutzen konnte. Etwa um lästige Dinge zu delegieren.
Bei dieser Gelegenheit kam mir in den Sinn, dass wir unsere Aktivitäten bei der Vorbereitung des Jubiläumstreffens ein bisschen gerechter aufteilen sollten. Vor allem, nachdem sie so schmählich mein Dach im Stich gelassen hatte.
Während ich überlegte, wie ich ihr das am besten erklären konnte, ohne wie ein Spielverderber zu klingen, blätterte ich in dem Ordner – und erstarrte. Auf einem der Fotos war das Frettchen zu sehen! Er stand im Kreis von ein paar albern lachenden Oberstufenschülern. Kein Zweifel, er war es! Dasselbe Gesicht, nur deutlich jünger. Das Haar noch voller, aber schon flusig, die Zähne zu einem verkrampften Überbisslächeln entblößt.
»Was ist das für ein Typ?«, fragte ich angespannt.
Ines beugte sich vor. »Warte mal … Der war nicht in unserer Klasse. Auch nicht in der Parallelklasse. Ich glaube, er war zwei Jahrgangsstufen unter uns. Einer von diesen Freaks, die keiner als Freund wollte.« Sie suchte in den Klassenlisten, ihr perfekt manikürter Zeigefinger glitt über die Namen.
»Der hieß Hannes«, sagte sie. »Hannes Schmöckler.«
Ich war wie erschlagen. Mit einem Mal waren die Erinnerungen wieder da. Genau, das war Hannes!
Er hatte sich einmal am Tag der offenen Tür in der Turnhalle beim Hochsprung die Hoden geprellt. An der Stange. Die Schreie hatte man bis auf den Schulhof gehört. Er musste vom Notarztwagen abgeholt werden. Noch wochenlang hatten ihn alle mit fisteliger Piepsstimme begrüßt, und auch danach hieß er überall nur Der Eunuch . Und da war noch etwas … Er hatte gestottert! Irgendwer aus seiner Stufe hatte mal erzählt, dass Hannes sich im Unterricht, wenn es ganz schlimm wurde, mit Zetteln behelfen musste. Deshalb hatte er auch immer ein Notizbuch dabei. Da schrieb er hinein, was er sagen wollte, denn sonst hätte die Stunde nicht gereicht, weil Hannes für ein einziges Wort ewig brauchte.
Am schwersten, so hatte es geheißen, fiel ihm das M . Aber auch das G war ein tückischer Buchstabe. Wie zum Beispiel bei Geld oder Leben . Während die Bankangestellten schon für den Feierabend einpackten, hätte das Frettchen ohne sein Notizbuch wahrscheinlich immer noch mit seiner leeren Plastiktüte dagestanden und versucht, G-G-G-G-Geld zu sagen.
Ich lachte hysterisch, es klang wie das Lachen von jemandem, der ein starkes Beruhigungsmittel nötig hatte.
»Fühlst du dich nicht gut?«, fragte Ines.
»Doch. Mir geht es super. Ach, übrigens, ich finde es toll von dir, dass du aus dem ganzen alten Kram hier eine Jubiläumszeitung basteln willst. Das ist wirklich eine gute Idee!«
Ines runzelte die Stirn. »Also eigentlich dachte ich eher …«
Ich stand auf und lehnte mich haltsuchend gegen Rock Hudson. »Jetzt muss ich mich hinlegen und ausruhen. Mir hängt die Grippe noch nach. Und ein paar andere Dinge. Zum Beispiel mein fehlendes Dach.«
Ines besaß den Anstand, rot zu werden. »Äh … Du hast recht, ich geh dann wohl mal besser. Ich melde mich.«
»Tu das«, sagte ich, mühsam ein nervöses Kichern unterdrückend. Mir war gerade in den Sinn gekommen, dass das Frettchen trotz
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