Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
durchwühlen. Stimmt’s?«
Ich bin so wütend und verletzt, dass ich kaum Luft bekomme. »Das ist nicht fair, Day. Ich habe es mir nicht ausgesucht, in das alles hineingeboren zu werden. Ich wollte deiner Familie nie etwas tun –«
»Tja, das hast du aber.« Ich spüre, wie ich unter seinem vernichtenden Blick zittere und langsam zerbreche. »Du hast die Soldaten direkt bis zu uns nach Hause geführt. Du bist schuld daran, dass sie tot sind.« Day kehrt mir den Rücken zu und stürmt aus der Küche. Ich bleibe allein in der plötzlichen Stille zurück und weiß nicht, was ich tun soll. Der Kloß in meinem Hals droht mich zu ersticken. Tränen lassen meine Sicht verschwimmen.
Day denkt, dass ich dem Elektor blind vertraue, statt auf meinen Verstand zu hören. Dass ich nicht auf seiner Seite und gleichzeitig der Republik treu sein kann. Na ja, bin ich ihr denn noch treu? Habe ich die Frage bei meinem Lügendetektortest nicht wahrheitsgemäß beantwortet? Bin ich eifersüchtig auf Tess? Eifersüchtig, weil sie ein besserer Mensch ist als ich?
Und dann kommt mir ein Gedanke, der so schmerzhaft ist, dass ich ihn kaum ertragen kann, so wütend mich Days Worte auch gemacht haben.
Er hat recht. Ich kann es nicht abstreiten. Ich bin wirklich schuld daran, dass Day alles verloren hat, was ihm jemals etwas bedeutet hat.
DAY
Ich hätte sie nicht so anschreien sollen. Das war daneben.
Doch anstatt mich zu entschuldigen, laufe ich eine zweite Runde durch den Bunker und überprüfe die Räume ein weiteres Mal. Meine Hände sind noch immer zittrig; mein Verstand kämpft noch immer gegen den Adrenalinrausch an. Ich habe sie ausgesprochen – die Worte, die mir seit Wochen im Kopf herumgespukt sind. Jetzt ist es raus und ich kann nichts mehr zurücknehmen. Also, was soll’s? Ich bin froh, dass June es nun weiß. Sie sollte es wissen. Und zu behaupten, dass Geld nichts bedeutet – der Satz ist ihr so mühelos über die Lippen geflossen wie Wasser. Erinnerungen steigen in mir auf, an Zeiten, als wir von einfach allem mehr gebraucht hätten. Ich muss an einen Nachmittag in einer besonders schlimmen Woche denken, an dem ich früher aus der Schule nach Haus gekommen bin und den vierjährigen Eden dabei erwischt habe, wie er den Kühlschrank durchwühlte. Er schreckte zusammen, als er mich hereinkommen sah. In der Hand hielt er eine leere Schüssel. Am Morgen war sie noch halb voll mit den kostbaren Resten des Hackfleischs vom Vorabend gewesen, die Mom sorgfältig mit Folie bedeckt und für die nächste Mahlzeit aufbewahrt hatte. Als Eden sah, wie ich auf die leere Schüssel in seiner Hand starrte, ließ er sie auf den Küchenboden fallen und brach in Tränen aus. »Bitte sag’s nicht Mom«, bettelte er.
Ich bin zu ihm gerannt und habe ihn in die Arme genommen. Er krallte sich mit seinen Kinderhänden in mein Hemd und presste sein Gesicht an meins. »Mach ich nicht«, flüsterte ich ihm zu. »Versprochen.« Ich weiß noch genau, wie dürr seine Arme damals waren. Später an diesem Abend, als Mom und John nach Hause kamen, habe ich Mom erzählt, ich sei schwach geworden und hätte die Reste aufgegessen. Sie hat mir eine schallende Ohrfeige gegeben und geschimpft, ich sei alt genug, um es besser zu wissen. Auch John hat mir eine enttäuschte Predigt gehalten. Aber was machte das schon? Also nahm ich es auf mich.
Wütend schlage ich die Tür zum Flur zu. Musste sich June jemals den Kopf über eine halbe Schüssel Hackfleisch zerbrechen? Wenn sie arm gewesen wäre, wäre sie der Republik gegenüber dann genauso verständnisvoll?
Die Pistole, die die Patrioten mir gegeben haben, hängt schwer an meinem Gürtel. Die Ermordung des Elektors hätte ihnen die Gelegenheit verschafft, die Regierung zu stürzen. Wir hätten der Funke sein können, der das Pulverfass in die Luft gejagt hätte, aber nun ist er verloschen, und zwar durch unsere Schuld – Junes Schuld. Und wozu das alles? Um dem Elektor dabei zuzusehen, wie er genauso wird wie sein Vater? Beinahe hätte ich gelacht bei der Vorstellung, er würde Eden freilassen. Eine typische Republiklüge. Ich bin, was Edens Rettung betrifft, kein Stück weitergekommen und jetzt habe ich auch noch Tess verloren und befinde mich wieder da, wo ich ganz am Anfang war. Auf der Flucht.
Scheint, als wäre das ein ständig wiederkehrendes Motiv in meinem Leben.
Als ich eine halbe Stunde später zurück in die Küche gehe, ist June nicht mehr da. Wahrscheinlich treibt sie sich in einem der
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