Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
ziemlich wendig und hast eine tadellose Balance«, fährt sie fort. »Aber diese Stärken machst du dir beim Kämpfen nicht zunutze. Es ist, als würdest du Panik bekommen. Du vergisst einfach deinen Schnelligkeitsvorteil und deinen Massenmittelpunkt.«
»Meinen was -Punkt?«, frage ich, doch sie stupst nur mit ihrer Stiefelspitze gegen die Außenseite meines Beins.
»Bleib immer auf den Fußballen und halte die Beine schulterbreit gespreizt«, erklärt sie. »Tu so, als stündest du auf Bahngleisen, mit einem Fuß ein Stückchen weiter vorne.«
Ich bin ein bisschen überrascht. June muss meinen Kampfstil wirklich genau beobachtet haben, obwohl dabei immer jede Menge Chaos um uns herum geherrscht haben muss. Und sie hat recht. Mir war nicht mal aufgefallen, dass meine Balance sich jedes Mal komplett verabschiedet, sobald ich zu kämpfen versuche. Ich tue, was sie sagt. »Okay. Und jetzt?«
»Na ja, erst mal runter mit dem Kinn.« Sie berührt meine Hände und schiebt sie so weit hoch, bis sich eine meiner Fäuste auf Höhe meiner Wange befindet und die andere vor meinem Gesicht schwebt. Sie lässt die Hände über meine Arme gleiten und überprüft meine Haltung. Ein Kribbeln durchläuft mich. »Die meisten Leute lehnen sich nach hinten und strecken ihr Kinn viel zu weit nach oben«, sagt sie und ihr Gesicht ist dabei ganz nah an meinem. Sie tippt mir ans Kinn. »Du auch. Und das ist geradezu eine Einladung für einen K.-o.-Schlag.«
Ich versuche mich auf meine Haltung zu konzentrieren und halte die Fäuste erhoben. »Und wie genau schlägt man zu?«
June berührt sanft die Spitze meines Kinns und dann meine Augenbraue. »Denk dran, es kommt nur darauf an, wie präzise dein Schlag ist, und nicht, wie hart. Du kannst jeden niederschlagen, auch wenn er dir körperlich weit überlegen ist, du musst nur die richtigen Stellen treffen.«
Bevor ich auch nur darüber nachdenken kann, ist eine halbe Stunde vergangen. June bringt mir eine Taktik nach der anderen bei: wie ich mein Kinn mit der Schulter schützen oder meinen Gegner mit angetäuschten Bewegungen verwirren kann, Haken von oben, Haken von unten, wie ich mich zurücklehnen und mit Fußtritten weiterkämpfen kann oder mich blitzschnell mit einem Sprung in Sicherheit bringe. Sie erklärt mir, dass ich auf die verletzlichen Körperteile zielen soll – Augen, Hals und so weiter. Ich schlage mit aller Kraft zu. Doch jedes Mal wenn ich versuche, sie zu überrumpeln, gleitet sie mir durch die Hände wie Wasser, fließend und permanent in Bewegung, und sobald ich auch nur blinzele, ist sie schon hinter mir und dreht mir den Arm auf den Rücken.
Schließlich bringt sie mich zu Fall und drückt mich auf den Boden. Ihre Hände nageln meine Handgelenke auf den Beton. »Siehst du? Ausgetrickst. Du starrst deinem Gegner in die Augen, aber dadurch ist dein Blickfeld zu eingeschränkt. Wenn du meine Arme und Beine im Blick behalten willst, musst du dich auf meine Brust konzentrieren.«
Ich hebe eine Augenbraue. »Na, wenn du das sagst …« Ich senke den Blick.
June lacht und wird ein bisschen rot. Eine Weile bleiben wir so liegen, ihre Hände halten noch immer meine Handgelenke umklammert, während ihr Bein quer über meinem Bauch liegt. Wir atmen beide schwer. Jetzt wird mir klar, warum sie dieses Spontantraining vorgeschlagen hat – ich bin müde und die Anstrengung hat meine Wut verrauchen lassen. Auch wenn sie sie nicht ausspricht, sehe ich die Entschuldigung klar und deutlich in ihrem Gesicht, in dem reuevollen Schwung ihrer Augenbrauen und dem leichten Beben unausgesprochener Worte auf ihren Lippen. Der Anblick beschwichtigt mich schließlich, wenn auch nur ein wenig. Meine Worte von vorhin tun mir zwar immer noch nicht leid, aber ganz fair waren sie auch nicht, das muss ich zugeben. So viel ich auch verloren habe, June hat genauso viel entbehren müssen. Sie hat einmal ein wohlhabendes Leben geführt und es dann aufgegeben, um meines zu retten. Und natürlich hat sie beim Tod meiner halben Familie eine Rolle gespielt, aber … Ich befreie meine Hand aus ihrem Griff und fahre mir durchs Haar. Plötzlich habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich kann ihr nicht an allem die Schuld geben. Und in einer Zeit wie dieser kann ich auch nicht allein bleiben, ohne einen Verbündeten, ohne jemanden, an den ich mich wenden kann.
Plötzlich schwankt sie.
Ich stemme mich auf die Ellbogen hoch. »Alles in Ordnung?«
Sie schüttelt den Kopf, runzelt die Stirn und versucht, es
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