Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
leisen Stöhnen.
»Hey«, flüstere ich und versuche, meine Stimme ruhig und beschwichtigend klingen zu lassen. Ich beuge mich zu ihr hinunter und streiche ihr übers Haar. »Wir müssen los. Na komm.« Ich schlage die Decken zurück, wickele June in eine davon, ziehe ihr ihre Stiefel an und nehme sie dann auf den Arm. Einen Moment lang schlägt sie panisch um sich, so als würde sie fallen, und ich greife sie noch fester. »Ganz ruhig«, murmele ich in ihr Haar. »Ich hab dich.«
Halb besinnungslos schmiegt sie sich in meine Arme.
Wir verlassen den Bunker und gelangen wieder in den schwarzen Tunnel, meine Stiefel platschen durch Pfützen und Matsch. Junes Atem geht flach und schnell und ist heiß vor Fieber. Nachdem wir um ein paar Ecken gebogen sind, ist der Alarm nur noch als leises Summen zu vernehmen. Ich erwarte jeden Moment, Schritte hinter uns zu hören, doch nach einer Weile verstummt das Alarmsummen ganz und ich laufe in vollkommener Stille. Es kommt mir vor, als würden Stunden vergehen, aber June murmelt vor sich hin, es sei erst »zweiundvierzig Minuten und dreiunddreißig Sekunden« her, dass wir losgelaufen sind. Ich stapfe weiter.
Dieser Abschnitt des Tunnels ist sehr viel länger als der andere und nur hin und wieder von einer schummrigen Glühbirne erleuchtet. Irgendwann bleibe ich einfach stehen und lasse mich an einer trockenen Stelle auf den Boden sinken. Ich trinke etwas Wasser und nippe an einer Dose mit Suppe. (Zumindest glaube ich, dass es Suppe ist – ich kann in diesem Halbdunkel kaum etwas erkennen, darum reiße ich einfach den Deckel von der ersten Dose, die mir in die Finger kommt.) June hat wieder angefangen zu zittern, was kaum verwunderlich ist. Hier unten ist es kalt, so kalt, dass mein Atem in schwachen Wolken vor meinem Gesicht steht. Ich wickle sie fester in die Decke, fühle noch einmal ihre Stirn und versuche, ihr etwas Suppe einzuflößen. Sie weigert sich zu essen.
»Ich hab keinen Hunger«, brummt sie. Als sie ihren Kopf an meine Brust legt, spüre ich die Hitze ihrer Stirn durch den Stoff meines Hemdes.
Ich drücke ihre Hand. Meine Arme sind so taub, dass selbst das schwierig ist. »Na schön. Aber du musst etwas trinken, ja?«
»Okay.« June kuschelt sich an mich und legt ihren Kopf in meinen Schoß. Ich wünschte, mir würde einfallen, wie ich sie warm halten kann. »Sind sie noch hinter uns her?«, fragt sie.
»Nein«, lüge ich. »Wir haben sie längst abgehängt. Ruh dich ein bisschen aus und mach dir keine Sorgen, aber versuch, wach zu bleiben.«
June nickt. Sie nestelt an ihrer Hand herum, und als ich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es mein Büroklammerring ist. Sie reibt darüber, als könnte er ihr Kraft verleihen. »Hilf mir dabei. Erzähl mir eine Geschichte.« Ihre Augen sind jetzt halb geschlossen und ich sehe, dass sie angestrengt versucht, sie offen zu halten. Ihre Stimme ist so leise, dass ich mich über ihren Mund beugen muss, um zu verstehen, was sie sagt.
»Was für eine Geschichte?«, frage ich, entschlossen, mit allen Mitteln zu verhindern, dass sie das Bewusstsein verliert.
»Ich weiß nicht.« June legt den Kopf schräg, um mir ins Gesicht zu sehen. Nach einer Weile murmelt sie schläfrig: »Erzähl mir von deinem ersten Kuss. Wie war der?«
Zuerst verwirrt mich ihre Bitte – keinem Mädchen hat es jemals gefallen, von seinen Vorgängerinnen erzählt zu bekommen. Dann aber wird mir klar, dass das hier June ist und dass sie ihre Eifersucht vielleicht dazu benutzen will, sich vom Einschlafen abzuhalten. Unwillkürlich grinse ich in die Dunkelheit. So ausgebufft wie eh und je. »Ich war zwölf«, flüstere ich. »Und das Mädchen war sechzehn.«
Junes Augen wirken sofort etwas wacher. »Da musst du aber ein ziemlicher Charmeur gewesen sein.«
Ich zucke mit den Schultern. »Kann sein. Ungeschickter war ich jedenfalls – wäre fast ein paarmal draufgegangen deswegen. Na ja, sie hat zusammen mit ihrem Dad in Lake an der Mole gearbeitet und mich eines Tages dabei erwischt, wie ich Essen aus ihren Vorratskisten stehlen wollte. Ich habe sie überredet, mich nicht zu verraten, und als Gegenleistung bin ich dann mit ihr in eine Seitengasse am Wasser gegangen.«
June versucht zu lachen, bekommt stattdessen aber einen Hustenanfall. »Und da hat sie dich dann geküsst?«
Ich grinse. »Könnte man so sagen.«
Es gelingt ihr, argwöhnisch die Augenbraue hochzuziehen, was ich als gutes Zeichen werte. Wenigstens ist sie jetzt wach.
Ich beuge mich
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