Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
ihre Gesichter in Grün, Orange und Violett. Ich bin zu erschöpft, um sie genauer zu analysieren, eine Sache aber bemerke ich sofort: Auf ihrer Kleidung – Stiefeln, Hosen, Hemden, Mänteln – prangen jede Menge Embleme und Schriftzüge.
Ich bin schockiert über die schiere Menge an Werbeplakaten an den Häusern – sie erstrecken sich so weit das Auge reicht und hängen manchmal so dicht nebeneinander, dass die Mauern darunter überhaupt nicht mehr zu sehen sind. Es scheint hier Werbung für alles und nichts zu geben, für Dinge, die ich noch nie gesehen, von denen ich noch nie gehört habe. DesCon-Akademie? Weihnachten?
Wir kommen an einem Schaufenster voller Minibildschirme vorbei, die Nachrichten und andere Videos zeigen. Ausverkauf! , verkündet ein Schild an der Scheibe. 30 % reduziert – nur noch bis Montag! Ein paar der Sendungen kommen mir bekannt vor – Nachrichten von der Front, politische Debatten. DesCon-AG verbucht weiteren Sieg für die Kolonien an der Grenze Dakota/Minnessota. Republiktrümmer als Andenken erhältlich!
Auf anderen Bildschirmen werden Filme gezeigt, etwas, das es in der Republik nur in speziellen Theatern in den Reichensektoren zu sehen gibt. Auf den meisten aber läuft Werbung. Anders als die Propagandaspots der Republik scheinen diese hier die Leute davon überzeugen zu wollen, Dinge zu kaufen. Ich frage mich, was für eine Art Regierung hinter einer solchen Stadt steht. Vielleicht gibt es noch nicht mal eine Regierung.
»Mein Vater hat mir mal erzählt, dass man die Städte in den Kolonien schon von Weitem leuchten sieht«, sagt Day. Sein Blick huscht von einer bunten Reklametafel zur nächsten, während er mir durch die Menschenmenge hilft. »Es ist genau so, wie er es beschrieben hat, aber ich verstehe diese ganzen Plakate nicht. Sind die nicht merkwürdig?«
Ich nicke. In der Republik haben solche Anzeigen eine einheitliche Form – ein schlichtes, übersichtliches Layout, das die Regierung vorgibt und das überall gleich ist, egal, in welchem Staat man sich befindet. Der Werbung hier scheint hingegen kein bestimmtes Farbschema zugrunde zu liegen. Es ist ein einziges Durcheinander, ein Gewirr aus Neonfarben und blinkenden Lichtern. So als wären sie nicht alle von derselben Regierung gemacht worden, sondern von einer ganzen Menge kleineren, unabhängigen Gruppen.
Ein Bildschirm an einem Gebäude zeigt einen Spot mit einem lächelnden Mann in Uniform. Ein Sprecher verkündet dazu: »Tribune-Polizei. Sie möchten ein Verbrechen melden? Mit einer Anzahlung von nur 500 Noten sind Sie dabei!« Unter dem uniformierten Mann erscheint in kleinen Buchstaben die Information: Tribune-Polizei: Ein Unternehmen der DesCon-AG.
Der nächste Spot lautet: Landesweiter AZR *-Test, mit freundlicher Unterstützung von Cloud: 27. Januar. Wollen Sie besonders gut abschneiden? Glückosin-Tabletten von Meditech, jetzt überall im Handel! Unter dem Text steht ein kleines Sternchen, gefolgt von: AZR : Arbeitnehmerzufriedenheitsrate.
Beim dritten Spot muss ich zweimal hinsehen. Der kurze Film zeigt Reihen von Kindern in einheitlicher Kleidung, auf den Lippen die fröhlichsten Lächeln, die man sich nur vorstellen kann. Dann erscheint der dazugehörige Text: Sie sind auf der Suche nach dem perfekten Sohn/der perfekten Tochter/dem perfekten Angestellten? Die Tauschzentrale ist ein Unternehmen von Evergreen Entertainment. Verwirrt runzele ich die Stirn. Vielleicht werden in den Kolonien auf diese Art Waisenkinder vermittelt. Oder?
Als wir weitergehen, fällt mir auf, dass in der unteren rechten Ecke jedes Spots oder Plakats immer dasselbe Logo zu sehen ist. Es ist ein großer, in Viertel aufgespaltener Kreis mit einem weiteren Logo in jedem der vier Teile. Darunter steht in Blockschrift:
DIE KOLONIEN VON AMERIKA
CLOUD. MEDITECH. DESCON. EVERGREEN
EIN UNTERNEHMERSTAAT IST EIN FREIER STAAT.
Plötzlich spüre ich Days warmen Atem an meinem Ohr. »June«, flüstert er.
»Was ist?«
»Wir werden verfolgt.«
Wieder etwas, das mir zuerst hätte auffallen müssen. Ich kann die Dinge, die mir entgehen, schon gar nicht mehr zählen. »Hast du das Gesicht erkannt?«
»Nein. Aber der Figur nach müsste es ein Mädchen sein«, erwidert er.
Ich warte ein paar Sekunden ab und riskiere dann einen Blick über die Schulter. Nichts als ein Meer von Kolonianern. Wer auch immer es gewesen ist, muss in der Menschenmenge untergetaucht sein.
»Wahrscheinlich nur falscher Alarm«, murmele ich.
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