Legende der Angst
Hoffnung bestand darin, die anderen womöglich aufzuhalten. Das würde jedoch bedeuten, daß sowohl sie als auch Kevin starben. Dieser Gedanke erfüllte sie mit einer schier unerträglichen Trauer. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Kevin beobachtete sie, und in seinem Blick lag Furcht.
»Hast du den Verstand verloren?« fragte er.
»Kevin«, sagte sie traurig, »die da oben sind böse. Mary hatte recht – man muß sie töten. Es gibt keine Möglichkeit, die Polizei oder sonstwen davon zu überzeugen, wie schlecht sie sind, weil sie lange Zeit noch genauso aussehen wie du und ich. Aber sie sind nicht so wie wir. In ihnen wächst etwas, das sie füttern müssen, das sie treibt, an der gesamten Menschheit Rache zu üben. Es gibt keinen anderen Weg, sie aufzuhalten, als sie zu töten.«
»Du klingst genauso verrückt wie Mary.«
»Mary ist tot«, schrie sie.
Er war entsetzt. »Was ist passiert?«
»Sie haben sie umgebracht.«
Er versuchte, sie in die Arme zu nehmen. »Angie?«
»Faß mich nicht an«, sagte sie und schob ihn heftiger von sich als eigentlich beabsichtigt. Sie erinnerte sich daran, wie stark sie geworden war. Es kam ihr so vor, als hätten ihre Kräfte sogar noch zugenommen seit dem Zeitpunkt, als Jim mit Kevin vor der Tür gestanden hatte. Hatten sie ihr wirklich Blut eingeflößt? Wessen Blut war es dann gewesen? Kevin sah sie völlig verwirrt an.
»Was stimmt nicht mit dir? Sag es mir doch«, bat er.
»In der Tat habe ich im Augenblick jede Menge Probleme, aber ich kann mich nicht um alle kümmern.« Sie ließ den Blick durch den Keller schweifen. Die Wände waren aus Beton, eine davon mit Brettern verkleidet – ihr Großvater würde die angefangene Arbeit nie mehr zu Ende führen können. »Hast du Streichhölzer dabei?« fragte sie ruhig.
»Nein.«
»Hast du ein Feuerzeug?«
»Ich rauche nicht, Angie. Und du wirst nicht versuchen, diese Kanister in die Luft fliegen zu lassen.«
Angela sah ihm in die Augen. Und wieder, wie in Marys Hütte, fühlte sie einen magnetischen Strom ihr Rückgrat hinauf in ihren Kopf fließen und förmlich aus ihren Augen schießen. Der unsichtbare Gedankenbeschwerer – sie hoffte, daß es diesmal klappen würde.
»Doch, das werde ich, Kevin«, sagte sie sanft. »Das genau ist es, was ich tun werde. Und jetzt möchte ich, daß du genau da stehenbleibst und dich nicht von der Stelle rührst. Ich will nicht, daß du dich irgendwie einmischst.«
Unvermittelt atmete Kevin schwer, Schweiß trat ihm aus allen Poren. »Das kannst du nicht tun«, flüsterte er.
»Ich kann und ich werde es tun. Halt dich da raus.« Sie riß ein Stück Holz aus der Wandverkleidung. Als sie die Finger um das Brett schloß, hörte sie das Holz unter der Gewalt ihres Griffes splittern. Ihre Sehnen fühlten sich an wie Stahlseile. Sie hatte ein halbes Brett abgerissen, das sie über ihrem Knie in zwei Teile brach. Das Ende der einen Hälfte sah aus wie eine Speerspitze. Angela ging zu den Kanistern zurück und stach einen davon mit der Spitze an. Benzin gurgelte aus dem Loch hervor und verteilte sich auf dem Boden.
»Angie«, krächzte Kevin hinter ihrem Rücken, unfähig, sich von der Stelle zu rühren.
»Halt den Mund. Sei still.«
»Du mußt aufhören.«
»Ich werde aufhören, wenn es sie nicht mehr gibt.« Sie kniete nieder, tränkte das Holz mit dem spitzen Ende mit Benzin und hielt es in ihrer Linken. Die andere Hälfte nahm sie in die rechte Hand. Die Monster oben waren offensichtlich nie in einem Pfadfinderlager gewesen und kannten nicht alle Spiele, die sie kannte. Sie hatten ihr die Feuerzeuge weggenommen – na toll. Sie brauchte nur einen einzigen anständigen Funken. Sie stach eine Holzhälfte hart an der anderen vorbei. Sie war stark – sie würde nicht viele Versuche benötigen. Sie schloß die Augen. Es würde bald geschafft sein.
Aber ihre Kräfte ließen nach. Sie war im Begriff, sich selbst in tödliche Gefahr zu bringen, und vielleicht waren die fremdartigen Organismen, die durch ihre Adern strömten, bis hierhin sogar behilflich gewesen. Aber der Teil von ihr, der noch Mensch war, ertrug das alles nicht. Sie war erst achtzehn. Sie wollte noch nicht sterben. Und ganz sicher wollte sie sich nicht selbst umbringen. Tränen schossen ihr aus den Augen, das Holz in ihren Händen bebte und fiel ins Benzin. Blut und Tränen und Benzin; sie schmeckte all das zusammen – ein Gebräu der Verzweiflung.
»Ich kann nicht«, stieß sie rauh hervor und stöhnte.
Das
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