Legenden d. Albae (epub)
geschehen. Eine weitere Gelegenheit, Timānris zu töten, bekam sie gewiss nicht. Stets befanden sich Pflegerinnen in der Kammer. Und immer wieder rieten die Stimmen in ihrem Kopf ihr die unterschiedlichsten Dinge, trieben sie beinahe in den Wahnsinn.
Womöglich bin ich schon verrückt.
Sie kleidete sich an und ging wie jeden Morgen vor dem ersten Mahl zu ihrer Herrin.
Habe ich Glück, und sie ist endlich tot
?
Sie betrat den Raum.
Zu Raleehas Überraschung saß Hirai, Timānris’ Mutter, auf dem Stuhl, den sie üblicherweise belegte. Nach wie vor wusste niemand, dass sie zu sehen vermochte, also tat sie so, als ob sie die Anwesenheit der Albin nicht bemerkt hätte.
»Warte an der Tür«, wurde sie angefahren. Hirai hatte Briefe auf dem Schoß liegen. Anscheinend hatte sie der Schlafenden gerade vorgelesen.
»Verzeiht. Ich wusste nicht …« Raleeha verneigte sich und blieb stehen, lauschte.
»Schon gut.« Hirai nahm das Vorlesen wieder auf.
Nach wenigen Sätzen verstand Raleeha, dass es sich um Briefe von Sinthoras handelte, die er seiner Zukünftigen gesandt hatte.
Die Worte schmerzten Raleeha, denn sie drückten die Sorge des Albs aus, der meilenweit von ihr entfernt und nicht in der Lage war, ihre Hand halten oder sie durch einen Kuss vielleicht wieder in die Ewigkeit zurückholen zu können. Die Sätze klangen ehrlich und klagten Raleeha unbewusst an.
Was habe ich ihm angetan
? Welche Qualen er wegen meiner Tat erleiden muss
!
Es dauerte nicht lange, und ihr rannen die Tränen aus den Augen. Heimlich wischte Raleeha sie mit dem Ärmel weg und zog sich aus der Kammer zurück.
Ihr schlechtes Gewissen und ihre Schuld schufen Hass auf sich selbst. Die Eifersucht, die Habsucht, das Stimmchen hatten sie dazu getrieben.
Ich werde nicht eher Ruhe finden, bis ich Sinthoras meine Tat gebeichtet habe.
Sie wollte keine Vergebung, doch sie musste sich seinem Zorn stellen. Was danach geschah, war einerlei.
Das vermochte sie jedoch nicht in Dsôn, nicht im Haus von Timānsor.
Einmal bin ich aus dem Reich der Albae entkommen
– warum sollte es mir nicht ein weiteres Mal gelingen
?
Es waren so viele Wagen mit Nachschub, mit Ausrüstung zum Steinernen Torweg unterwegs, auf denen sie sicherlich in aller Heimlichkeit einen Platz finden würde.
Der Entschluss war gefallen.
Sie kehrte in ihre Kammer zurück, packte einige wenige Habseligkeiten zusammen und hinterließ Timānsor einen Brief, in dem sie ihm schrieb, dass sie zu ihrem Bruder zurückkehren wolle.
Der Freibrief
!
Raleeha fiel glücklicherweise ein, dass Timānris ihr ein Schreiben ausgestellt hatte, das sie freigab und ihr Geleit aus Dsôn Faïmon gewährte. Es trug keine Zeitangabe, lediglich ihr Siegel und ihre Unterschrift. Ausgerechnet von ihr musste Raleeha einen Gefallen in Anspruch nehmen! Das erleichterte ihr Gewissen wahrhaftig nicht.
Sie hielt sich nicht lange auf, sondern warf die an den Hausherrn gerichteten Abschiedsworte auf ihr Lager, nahm das Geld an sich, das ihr aus dem Verkauf ihrer Ritzereien zugefallen war, und eilte aus dem Haus.
Raleeha war aufgeregt, Vorfreude und Angst tobten in ihr gleichermaßen. Sie würde mit einem Soldatentross nach Süden reisen, um zu ihrem Gebieter zu gelangen! Würde sie nach ihrer Beichte durch seine Hand sterben, so war es ihr recht.
Wirf dein Leben nicht weg,
hörte sie das Stimmchen.
Du bist zu jung und eine zu gute Künstlerin. Lass dir etwas anderes einfallen
!
Raleeha hörte nicht hin.
Es dauerte nicht lange, und sie fand einen Zug aus zehn Wagen, die mit Pfeilen und Speeren für die Katapulte bepackt an die Front rollten. Als sie den Anführer fragte und ihm ihren Freibrief zeigte, gestattete er ihr, es sich auf der mit einer Plane geschützten Ladefläche bequem zu machen.
Raleeha saß auf dem schwankenden Wagen, während sie Schritt um Schritt den Grenzen des Albae-Reichs entgegenfuhr. Wehmut befiel sie, wenn sie an die Einmaligkeit und die Schönheit dachte, die sie hinter sich ließ.
Du gehörst hierher, nicht zu den Menschen. Sie verstehen dich nicht,
wisperte es in ihr.
Die Albae bewundern dich, Raleeha. Wie kannst du das aufgeben wollen
?
Und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, Sinthoras ihre Tat zu beichten, und sich lange gegen die verlockenden Einflüsterungen wehrte, kam ihr nach wenigen Meilen ein Einfall. Einer verschlagenen, gewissenlosen Albin durchaus würdig.
Ishím Voróo (Jenseitiges Land), siebzehn Meilen vom Nordpass und dem Steinernen Torweg entfernt, 4371.
Weitere Kostenlose Bücher