Legenden der Traumzeit Roman
voller Schatzkarten und Wegbeschreibungen.
»Komm schon, Freddy«, brummte er, »höchste Zeit, dass du erwachsen wirst!«
Er legte das Buch in die Dose zurück und trug es in sein Schlafzimmer, begierig, darin zu lesen, denn er war zuversichtlich, dass er es inzwischen entziffern konnte. Er stellte die Kissen hoch und streckte sich auf dem Bett aus. Das Buch wirkte zerfetzter, als er es in Erinnerung hatte, und die Schrift war blasser geworden. Aber als er es aufschlug und das Deckblatt las, erkannte er, dass die Tinte noch genug Farbe hatte, um lesbar zu sein.
Der Name auf der ersten Seite überraschte ihn nicht, und obwohl einige Wörter und Sätze etwas altmodisch waren, gelang es ihm, sie nach seiner Ausbildung in England so leicht aus dem Deutschen zu übertragen, dass er sich schon bald in einer anderen Welt verlor.
Als der Gong zum Dinner rief, hatte er fast die Hälfte gelesen, doch die Freude und Aufregung, es endlich lesen zu können, war in der lastenden Düsternis erstickt worden, die jede Seite anfüllte – und von den Geheimnissen, die dort offenbart wurden.
Nachdenklich und sehr bekümmert steckte Frederick das Buch in die Tasche und ging hinunter.
Parramatta, Juni 1856
Frederick hatte das Buch seit drei Wochen zu Ende gelesen, doch die quälende Geschichte ließ ihn nicht los. Er hatte nachts wach gelegen und darüber nachgedacht, und sie nagte an ihm, wenn er sich eigentlich auf andere Dinge konzentrieren sollte. Er war erschöpft, verwirrt und mit seiner Weisheit am Ende, denn das Tagebuch hatte etwas offenbart, das die Familie und alles vernichten konnte, was sie erreicht hatte.
»Irgendetwas macht dir Sorgen, Freddy. Du hast kein einziges Wort von dem gehört, was ich in den letzten zwanzig Minuten erzählt habe.«
Er versuchte es zu überspielen. »Ich bin nur ein bisschen müde«, sagte er. »Ich muss einfach vieles aufnehmen.«
Niall erhob sich von seinem Stuhl und setzte sich auf die Ecke des Schreibtisches. »Ich habe das Gefühl, es geht um mehr«, sagte er ruhig. »Warum sagst du es mir nicht?«
Frederick fragte sich, ob er es wagen sollte. Niall war in den vergangenen Monaten zu einem guten Freund und Berater geworden. Er war der Vertraute, Freund und Geschäftspartner seines Onkels, ein Mann der Diskretion, doch konnte er ihm sein Wissen offenbaren und sicher sein, dass Niall es für sich behalten würde? Er schaute in das besorgte Gesicht und schwankte.
»Was immer du zu sagen hast, wird diese vier Wände nicht verlassen, Freddy. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
»Auch wenn es etwas ist, was …« Frederick verstummte. Wenn er es Niall erzählte, würde er nicht nur den Verfasser verraten, sondern alle, die ihm lieb und wert waren. Doch nicht darüber zu sprechen würde bedeuten, dass er die Last allein zu tragen hätte, die im Lauf der Jahre schwerer würde.
»Wie du weißt, Freddy, bin ich Katholik, und wir glauben, dass die Beichte gut für die Seele ist, wenn man ehrlich bereut. Ich kann mir nicht vorstellen, was du getan haben könntest, dasdich so offensichtlich quält, aber ist es nicht besser, dich mitzuteilen, als dich davon auffressen zu lassen?«
Frederick hielt seinem Blick stand. »Versprichst du mir, dass das, was ich zu erzählen habe, nicht aus diesem Raum hinausdringen wird?«
»Ich habe dir bereits mein Wort gegeben.« Plötzlich fehlte den blauen Augen die übliche Wärme. »Ich pflege nicht zu lügen.«
Freddy schluckte und entschuldigte sich, denn er hatte nie an Nialls Ehrlichkeit gezweifelt. Er holte tief Luft und sprach von den sechs Jahren, die er in England verbracht hatte, statt über das Buch zu reden. »Meine Tante und mein Onkel haben mich wie ihren Sohn behandelt, und Charlie ist mir ein Bruder geworden, was das Leben im Internat ein wenig erträglicher machte, als es hätte sein können. Es gab so viele Regeln und stillschweigendes Einvernehmen unter den Jungen, was mir meistens unverständlich war, doch Charlie war immer da, um mir zu helfen.« Deutlich stieg die Erinnerung an die Schikanen und die Häme der anderen Jungen in ihm auf, und er unterdrückte sie rasch.
»Mein Onkel Harry legte Wert darauf, in den Ferien Zeit mit mir zu verbringen, und wir haben über viele Dinge gesprochen, denn er hatte Verständnis für mein Heimweh und die Mühe, die ich hatte, mich in der Schule zurechtzufinden. Auch er hatte sich stets ausgegrenzt gefühlt; er hatte mit fremdem Akzent gesprochen, abweichende Ansichten gehegt und unterschiedliche
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