Legionare
der Sonne trocknen zu lassen. Mi-pah gesellte sich zu ihr. »Hat man dir aufgetragen, diese Fragen zu stellen?«, fragte Dar.
»Hai.«
»Bist du fertig?«
»Hai, aber eine Frage interessiert auch mich.«
»Welche denn?«, fragte Dar.
»Darf ich deine Krallen mal anfassen?«
Dar lächelte. »Natürlich?«
Die Faszination, die Mi-pah angesichts von Dars Zehen-und Fingernägeln empfand, war der erste Hinweis darauf, dass sie noch ein Kind war: Sie untersuchte Dars Zehen so gründlich, dass sie kichern musste. Das Geräusch ließ Mi-pah zusammenzucken, sodass Dar nun wirklich lachen musste.
Als sie trocken war, kleidete sie sich an. Sie zog ihr Unterkleid und den Rock an, aber nicht die Bluse. Sie hängte es an den Verschlussbändern über ihre Schultern, sodass es den Umhängen ähnelte, die blütige Mütter trugen. Obwohl es zu
kühl war, um barbusig zu gehen, hielt Dar es für klug, auf ihre Weiblichkeit hinzuweisen. So gekleidet, bat sie Mi-pah, sie herumzuführen.
Die Sippe lebte seit Generationen in den Bodensenken eines nach Süden schauenden Bergrückens und hatte im Laufe der Jahre viele nützliche Landschaftsveränderungen geschaffen. Der Badeteich war nur eine. Mi-pah zeigte Dar Terrassenfelder, die für jeden, der von unten zum Berg hinaufschaute, unsichtbar blieben. Lagerhäuser und Stallungen lagen ähnlich versteckt. Man hatte sich bemüht, auch alle Pfade vor fremden Blicken abzuschirmen.
Dar registrierte überrascht, dass auf den Terrassenfeldern Mütter und Kinder arbeiteten. Hatte Zna-yat nicht gesagt, nur männliche Orks gingen dieser Tätigkeit nach? »Wo sind die Söhne?«, fragte sie.
»Sie bewachen den Westpass. Sie beschützen ihn vor den Washavoki.«
»Warum denn?«, fragte Dar. »Die Washavoki leben doch fern von hier. Ich habe das Land vor Blath Urkmuthi bereist. Es ist leer.«
»Diese Arbeit ist das Schicksal unserer Sippe«, erwiderte Mi-pah.
»Warum?«
»Das wissen nur blütige Mütter.«
So ist es also, dachte Dar. Mi-pah ist meine Sapaha, weil sie alt genug ist, um mir Muth-pahs Fragen zu stellen – aber nicht alt genug, um die meinen zu beantworten.
16
ALS DAR UND MI-PAH ins Haus zurückkehrten, war das Mittagessen fast fertig. Der Eintopf hatte das gleiche schmackhafte Aroma wie der von Velasa-pah. Das einzige Hanmuthi im Haus war nicht groß genug, um die ganze Sippe zugleich zu beherbergen, deswegen aßen die Mütter zuerst. Muth-pah fing an, indem sie Muth’la dankte. Dies war die einzige Förmlichkeit. Die Mütter tischten sich und ihren Kindern auf, dann setzte man sich zum Schwatzen hin.
Dieses beiläufige Verhalten überraschte Dar. »Ich habe beim Servieren immer ›Muth’la schenkt euch dieses Essen‹ gesagt«, sagte sie zu Mi-pah.
»Weil du den Söhnen aufgetischt hast«, erwiderte Mi-pah. »Es ist doch unser Essen.«
Dar nutzte die Gelegenheit, einer anderen Mutter eine Frage zu stellen, die sie schon lange beschäftigte. »Wieso gehören Nahrungsmittel eigentlich uns?«
Mi-pah schaute sie an, als wäre sie ein Kind. »Das weiß doch jeder.«
»Ich nicht.«
»Weil Muth’la die Welt durch die Mütter regiert. Kinder treten durch uns ins Leben ein. Nahrung kommt aus unseren Brüsten. Wir sind Muth’las Augen und Hände. Wir sprechen ihre Worte. Unsere Geschenke sind ihre Geschenke.«
»Das ist logisch«, sagte Dar.
»Ist es bei den Washavoki nicht auch so?«
»Thwa. Die Söhne herrschen, weil sie stark sind.«
»Wenn das klug wäre, würden Bären die Welt regieren«, sagte Mi-pah. »Kein Wunder, dass die Washavoki bösartig sind.«
Jemand rief Mi-pah, die aufstand und sich zu einer Gruppe von Müttern auf die andere Seite des Raumes gesellte. Dar blieb allein zurück, eine Außenseiterin im alltäglichen Leben der Sippe. Sie beneidete die Mütter in ihrer Umgebung. Sie wirkten würdevoll, lebhaft und in ihrer Autorität überlegen. Mi-pah beteiligte sich gut gelaunt an einem Gespräch. So wie die Mütter fortwährend in Dars Richtung schauten, schienen sie über sie zu reden. Muth-pah gesellte sich ebenfalls zu der Gruppe und sprach mit Mi-pah. Nach einer Weile stand Muth-pah auf und kam zu Dar. »Tava, Dargu«, sagte sie.
Dar verbeugte sich respektvoll. »Tava, Mutter«, sagte sie und verwendete ihren Ehrentitel.
»Du weißt, was Höflichkeit ist«, sagte Muth-pah. »Und du hast gebadet. In diesem Haushalt leben viele. Du solltest es oft tun.«
»Ich werde es tun, Mutter«, erwiderte Dar. »Aber ich werde nicht lange bleiben. Ich habe
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