Legionare
Stimme. »Gebt der Sippe Bescheid, dass die neue Mutter geboren wurde. Ihr Name ist Dargu-yat.« Anschließend trug sie Dar an der Spitze der übrigen Mütter, die eine Dankeshymne an Muth’la sangen, durch das Haus. Dar weinte, als wäre sie tatsächlich ein Kind, aber sie weinte aus Freude.
Drei Tage lang lag Dar in Zor-yats Schlafzimmer und gewann ihre Kräfte zurück. Ihre Muthuri gab ihr Milch zu trinken und kleidete sie neu ein.
Im Laufe der ersten Tage durften nur engste Verwandte Besuche machen. Sie begrüßten Dar wie eine Neugeborene, gaben ihr Kosenamen und nannten sie »Schwesterchen«. Später kreuzte nach und nach die gesamte Sippe auf. Jeder und jede beschrieb genau sein oder ihr Verwandtschaftsverhältnis zu ihr. Dabei fielen öfter Ausdrücke, die Dar noch nie gehört hatte. Später erläuterte Zor-yat, was sie bedeuteten, doch Dar bezweifelte, dass sie den Sinn je vollständig erfassen konnte.
Ihre Gestalt war durch den Zauber nicht verändert worden. Sie sah so aus wie vorher. Augen und Geruchsvermögen hatten sich nicht geschärft. Trotzdem stand fest, dass sie jetzt eine Urkzimmuthi war, denn so behandelte man sie. In dieser Beziehung hatte die Macht des Zaubers alles gewandelt. Als
Dar in die Wohnkammer zurückkehrte, sah sie Nir-yat und Thir-yat als ihre älteren Schwestern an. Im Gespräch zeigten sie weniger Achtung, aber mehr Zuneigung, und sie konnten miteinander über alles reden.
»Du bist mir ja vielleicht eine Neugeborene«, meinte Nir-yat mit breitem Lächeln. »Bei deinen Zitzen dauert es gewiss keinen Monat, bis du blütig wirst.«
»Was für ein Glück«, äußerte Thir-yat. »Ich war vierzehn Winter alt, ehe ich Muth’las Geschenk empfing.«
Dar wunderte sich, weil sie ihre Regel nie als »Geschenk« empfunden hatte. »Wieso Glück?«
»Dann bist du erwachsen«, sagte Nir-yat.
»Und kriegst deine Tätowierung«, erklärte Thir-yat.
»Tut es weh?«, fragte Dar.
»Muthuri sagt, es ist nicht schlimmer als Gebären«, antwortete Nir-yat.
»Aber auch nicht weniger schlimm«, sagte Thir-yat. »Mein Gesicht war ganz geschwollen!«
Nir-yat zischte. »Sie sah aus wie eine Beere.«
»Aber jetzt bin ich süß und saftig.«
»Nur im Traum«, erwiderte Nir-yat. »Kein Sohn hat dir Liebe geschenkt.«
»Glaubst du«, entgegnete Thir-yat. »Entsinnst du dich an den Frühling, in dem wir Muthuris Bruder besucht haben?«
»Hai«, bestätigte Nir-yat. »Ich habe gesehen, dass du mit einem Sohn fortgeschlichen bist. Aber danach hab ich kein Atur gerochen.«
»Er war keine große Freude.«
»Also war es kein Liebeschenken«, antwortete Nir-yat. Sie wandte sich an Dar. »Keine Bange, Dargu. Der Sohn war nicht Kovok-mah.«
»Was hat unser Vetter damit zu tun?«, fragte Thir-yat.
»Erzählt mir noch was übers Tätowieren«, sagte Dar hastig. Sie hob die Hand und berührte das Muster an Nir-yats Kinn. Die schwarzen Male waren leicht erhaben. Jede Sippe hatte eine besondere Tätowierung, mit der man alle Söhne und Mütter kennzeichnete, sobald sie als erwachsen galten.
»Wenn du Muth’las Geschenk empfangen hast, bringt Muthuri dich zur Latath«, erläuterte Nir-yat. »Die Latath fertigt Sippenzeichen an. Es dauert einen vollen Tag. Du musst Stärke zeigen und Tüchtigkeit beweisen. Liege still und klage nicht.«
»Bei uns ist Jvar-yat die Latath«, sagte Thir-yat. »Sie ist sehr geschickt.«
Dar schaute sich das Kinn ihrer Schwestern an und wusste Jvar-yats Handwerkskunst in der Tat auf Anhieb zu schätzen. Die Tätowierungen bildeten ein Muster aus Wirbeln, die von einem geraden Strich in Höhe der Unterlippe ausgingen. Sie erinnerten an Wasserfälle. Ungeachtet der verschlungenen Muster sahen beide Tätowierungen absolut identisch aus.
Dar erhielt ihre Sippentätowierung eine Woche nach der Wiedergeburt. Die Tätowierung fand im Rahmen eines Zeremoniells statt, bei dem Muth-yat, Zor-yat und ihre Familie Gebete für ein langes, glückliches Leben sangen. Dar lag im Freien auf einer hölzernen Bank, während Jvar-yat ihr mit in schwarzen Brei getunkten Dornen das Sippenzeichen eintätowierte. Bestimmt über tausendmal wurden Dars Unterlippe und Kinn gestochen, und jedes Mal tat es weh. Gegen Sonnenuntergang fühlte sich die untere Hälfte ihres Gesichts an, als stünde es in Flammen.
Am Abend musste Dar durch ein Röhrchen eine flüssige Mahlzeit saugen, weil ihr Gesicht zu arg angeschwollen war,
um auf andere Weise Nahrung aufzunehmen. Während sie im Dunkeln wach lag,
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