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Legionen des Todes: Roman

Legionen des Todes: Roman

Titel: Legionen des Todes: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael McBride
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II
     
    Ray hatte keine Ahnung gehabt, wie sehr seine Definition von Bewusstsein mit seinem Gesichtssinn verbunden gewesen war. Wenn er aus einem Traum erwachte, öffnete er die Augen, wenn er in den Schlaf hinüberglitt, schloss er sie. Jetzt entdeckte er verschiedene Ebenen von Bewusstsein, Arten der Wahrnehmung, von denen er bisher gar nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existierten. Früher war er entweder wach gewesen oder er hatte geschlafen, doch jetzt erforschte er die verschiedenen Grauzonen, die zwischen diesen beiden Zuständen lagen. Was für ihn die Schlaftrunkenheit nach dem Aufwachen gewesen war, lernte er nun als eine ganz bestimmte Art von Wachsamkeit kennen. Es war ein eigenartiger Moment, in dem er Kontakt sowohl zu den rationalen als auch zu den irrationalen Anteilen seines Denkens hatte, wie auf einer beleuchteten Straße, die darauf wartet, dass die Laternen erlöschen, während die Sonne langsam am Horizont aufsteigt. Traum und Wirklichkeit waren eine nicht unterscheidbare Überlagerung verschiedener Bewusstseinsebenen, innere Bilder und Empfindungen nicht zu trennen von den Reizen der Außenwelt.
    Das dröhnende Plipp … Plipp … des von der Decke herabtropfenden Kondenswassers sagte ihm, dass er sich noch in der Höhle befand, genauso wie das Prasseln des Feuers, die Wärme der Flammen auf seinem Gesicht, der Geruch von alter Erde und abgestandenem Wasser. Doch im selben Moment saß er im Wohnzimmer seiner alten WG, Tina neben ihm, und hielt still ihre Hand. Hätte er noch seine Augen, müsste er sie nur öffnen, um eines der beiden Bilder zu verscheuchen, zwischen den Bewusstseinsebenen zu wechseln, als betätigte er einen Ein/Aus-Schalter. Ohne seine Augen war er jedoch gezwungen, die beiden mit seinem Geist zu unterscheiden, Schicht für Schicht die Gerüche und Geräusche um ihn herum zu untersuchen, um danach zu entscheiden, wo er sich befand. Auch wenn es ihm die größten Schmerzen bereitete, musste er zulassen, dass das Bild von der Liebe seines Lebens sich langsam auflöste und von dem Geruch des Rauches, der von dem Feuer vor ihm aufstieg, verdrängt wurde, dessen graue Flammen aus einer weißen Mitte züngelten …
    Als hätte jemand ihn geohrfeigt, war Ray mit einem Mal hellwach, während das grau-weiße Feuer vor seinen Augen wieder zu einer schwarzen Fläche verblasste.
    Er hatte die Flammen genau so gesehen, wie Jake sie ihm gezeigt hatte. Dessen war er sich absolut sicher. Oder war es doch nur ein Traum gewesen? Er biss sich fest auf die Lippen, um sicherzugehen, dass er vollkommen wach war, denn wie sonst sollte er es herausfinden, bei all den verschiedenen Bewusstseinszuständen, die er mittlerweile kannte? Die Augen konnten einen täuschen, aber sie waren auch das Fenster zur realen Welt. Ohne Augen musste sein Verstand die Aufgabe übernehmen, real von irreal zu unterscheiden. Die Bilder aus der Zeit, als er noch hatte sehen können, waren noch so frisch in seiner Erinnerung, dass sie ihm realer erschien als die blassen Schattenzeichnungen, die er in seinem Geist erschuf, um seine Sinneseindrücke in eine Art optischer Wahrnehmung zu übersetzen. Wenn er die Flammen tatsächlich gesehen hatte, müssten sie dann nicht immer noch da sein?
    »Du bist eingeschlafen«, sagte Jake, und Ray zuckte zusammen. Er hatte den leisen Atem des Jungen nicht gehört, auch wenn er jetzt, da er es versuchte, die anderen genauso wenig hören konnte.
    »Wo sind sie alle hingegangen?«
    »Adam und Phoenix sind zurückgekommen. Sie helfen ihnen beim Ausladen.«
    »Und warum bist du nicht dabei?«
    »Ich wollte bei dir bleiben.«
    »Weshalb?«, fragte Ray. Jake war ihm in den letzten Tagen keine Sekunde lang von der Seite gewichen, etwas, worüber Ray sich noch keine Gedanken gemacht hatte, ganz einfach deshalb, weil es so angenehm war, ständig in Gesellschaft zu sein.
    »Ich wollte dafür sorgen, dass du bereit bist.«
    »Für was?«
    »Wir werden bald hier wegmüssen.«
    »Und wohin gehen wir?« Ray spürte die Anspannung in der Stimme des kleinen Jungen. Er war nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte.
    »Ich weiß es nicht. Nicht genau … Aber unsere Zeit hier wird bald zu Ende sein. So oder so.«
    »Es geht mir gut, und ich werde bereit sein, wenn es so weit ist. Warum gehst du nicht raus und siehst nach den anderen?«
    »Sie sind bereit, das weiß ich. Aber wenn du nicht bereit bist, kommen wir nirgendwohin. Du bist am wichtigsten. Ohne dich kommen wir da nicht

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