Legionen des Todes: Roman
öffnete es und betrat den Friedhof. Die kleinen Sandhügel waren im Lauf der Zeit verflacht, die schmalen Wege dazwischen wellig und ausgetreten. Sie ging bis fast ans linke Ende der Reihe, wie sie es immer tat, und setzte sich ein wenig unsicher auf den Boden, das Baby an ihre Brust gebettet. Sie hob ihren Blick zu dem marmornen Grabstein der Jungfrau Maria, die ihren Sohn auf den Armen hielt und in beinahe derselben Haltung auf dem Boden kniete, wie Jill es in diesem Moment tat.
Ein schwaches Lächeln trat auf ihre Lippen, und ihre Wimpern glänzten von Tränen.
»Hallo, Mare. Ich möchte dir jemanden zeigen«, sagte sie und drehte ihre Tochter so, dass ihr Gesicht dem Grabstein zugewandt war. Die Haut des Babys war noch ganz rot, sein Kopf noch ein wenig deformiert durch den Geburtskanal, und gerade öffnete es seine Augen, die genauso aussahen wie die seiner Mutter. Als die Kleine ihre Augen wieder schloss, lächelte sie. Das Lächeln ihres Vaters. »Das ist Mary.«
IV
Missy saß auf einem Felsen am Strand und ließ ihre Füße in das kalte Wasser hängen, in dem das Licht der untergehenden Sonne glitzerte wie auf einem Diamanten. In dem Jahr, als die alte Welt untergegangen war, war sie um mehrere Jahrzehnte gealtert, ein grauer Schopf durchzog ihr rabenschwarzes Haar, das bis fast zu ihrer Hüfte hinunter gewachsen war. Die ersten drei Monate nach dem schicksalhaften Tag auf dem dunklen Turm waren die schlimmsten gewesen. Sie hatte die Tage verschlafen und nachts hinauf in den Himmel gestarrt, wütend auf Gott, weil er ihr die beiden Menschen genommen hatte, die sie am meisten liebte, hatte sich gewünscht, sie wäre immer noch tot und müsste keinen Schmerz mehr spüren. Warum war es ihr nicht vergönnt, einfach bei denen zu bleiben, die ihr am meisten bedeuteten? Ihr war keinerlei Erinnerung geblieben an die wenigen Minuten, die sie tot gewesen war, nur manchmal, wenn sie sich auf die Sterne hoch am Himmel konzentrierte und sich in ihrer Schönheit verlor, hatte sie das Gefühl, als könnte sie die Erinnerungen greifen und festhalten, aber sie versuchte es nie. Manchmal stellte sie sich vor, wie ihr Bruder und die große Liebe ihres kurzen Lebens auf sie herunterschauten und ihr zwischen den glitzernden Sternen zuzwinkerten, und dann fühlte sie sich nicht mehr ganz so allein.
Es war nicht ein einzelnes kathartisches Ereignis gewesen, das sie aus ihrem Dämmerzustand gerissen hatte, sondern ein allmählicher Prozess, in dessen Verlauf sie nach und nach begriff, welch ein großes Geschenk ihr zuteilgeworden war: Ihr Bruder hatte sein Leben gegeben, um sie und die anderen zu retten, für dieses wunderbare Kind, das jetzt im Schoß seiner Mutter lag, die an seinem Grab saß; Phoenix hatte sich geopfert, um sie vor Tod zu beschützen, und er hatte all seine Lebenskraft auf sie übergehen lassen, damit sie leben konnte – jetzt nicht das Beste aus ihrem Leben zu machen hätte bedeutet, ihrer beider Andenken zu entehren und den letzten Beweis ihrer Liebe zu entweihen. Sie fragte sich oft, ob die Kraft, die er auf sie hatte übergehen lassen, um sie von den Toten wiederzuerwecken, Phoenix gereicht hätte, Tod zu besiegen, ohne selbst dabei zu sterben. Hätte er sie einfach tot liegen gelassen, wäre er dann noch am Leben? Lange Zeit hatte sie sich genau das vorgeworfen, bis sie begriff, dass es Phoenix’ Bestimmung gewesen war, sein Leben genau so zu opfern, wie er es getan hatte. Seit dem Tag seiner Geburt war er auf dieses Opfer vorbereitet worden. Und jetzt verstand sie, dass sie sich für jeden einzelnen Tag glücklich schätzen konnte, den sie mit ihm hatte verbringen dürfen. Sie war einem genauso wunderbaren wie exotischen Vogel begegnet, und sie hatte ihn geliebt, aber es war ihr nie bestimmt gewesen, ihn zu behalten. Es war seine Bestimmung gewesen, sich aus der Asche zu erheben und in einem Feuerball in den Himmel aufzusteigen.
Und dennoch, ein Teil von ihm würde immer in ihrem Herzen bleiben, seine genauso wunderbare wie vergängliche Schönheit weiterleben in den Generationen, die noch kommen würden. Generationen, denen das Leid, das sie hatten ertragen müssen, erspart bleiben würde.
Sie blickte hinaus auf die sanften, schillernden Wellen, schaute in die Zukunft, nicht auf das Ende der Tage, die noch vor ihr lagen, sondern auf deren Anfang.
Es war an der Zeit, wieder zu leben.
BESONDEREN DANK AN:
Anna Torborg, Emma Barnes und Snowbooks, Shane Staley, Dennis Duncan, Greg Gifune,
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