Legionen des Todes: Roman
sehen, als es passiert ist?«, fragte Jake.
»Nein«, antwortete Ray etwas zu schnell, während er noch in der Dunkelheit seines Gedächtnisses suchte. Er hatte etwas gesehen, oder nicht? Er erinnerte sich, dass er über etwas gestolpert und hingefallen war. Kurz bevor er auf den Boden schlug, hatte er einen grauen Lichtblitz gesehen. Vielleicht war es nur eine ganz gewöhnliche neuronale Reaktion auf einen stumpfen Schlag gegen den Kopf gewesen, aber jetzt, da er angestrengt versuchte, das Bild zurückzuholen, erinnerte er sich, wie er kurz vor dem Aufprall die verschwommenen Umrisse von allen möglichen Gegenständen gesehen hatte, die auf dem Höhlenboden verstreut lagen. Waren das Kleidungsstücke gewesen? Decken? Die scharfen Konturen von Kisten, die wild durcheinanderstanden, die raue Oberfläche des Felsenbodens?
»Du hast nichts gesehen, oder?«
»Vielleicht«, erwiderte Ray. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Ich dachte … Ich weiß es nicht.«
Ein Schrei zerriss die Nacht, und ein Vogelschwarm, der eben noch dösend auf dem See getrieben hatte, erhob sich kreischend in die Luft.
Ray drehte sich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Er stand auf, diesmal weit vorsichtiger wegen des Stapels Decken unter ihm und des Hindernisparcours aus Kisten und Kartons, der sich zwischen ihm und dem Strand erstreckte. Er hob seine Füße absichtlich nicht vom Boden und pflügte sich so in einer geraden Linie über den felsigen Untergrund bis zu dem weichen Sand am Strand durch, lauschte dabei aufmerksam, wartete auf einen weiteren Schrei oder irgendein anderes Geräusch, das ihm die Richtung wies. Es hatte geklungen, als wäre der Schrei vom Ufer zu seiner Rechten gekommen, aber Ray war nicht sicher. Unter seinen Füßen hörte er das Schmatzen des von der Flut durchnässten Sandes, was bedeutete, dass er nicht weit genug nach rechts abgebogen war, also ließ er sich von dem schlurfenden Geräusch seiner Schritte weiter nach Süden dirigieren. Jake hatte ihn eingeholt und nahm seine Hand.
»Evelyn!«, rief Jake. Sie stand am Kopfende von Carries Grab, aber entweder konnte sie ihn nicht hören, oder sie ignorierte ihn absichtlich. Phoenix eilte bereits von ihr weg und ging auf die niedergebrannte Straßensperre zu. Evelyn stolperte hinter ihm her, ohne zu merken, dass Jake und Ray über den Strand auf sie zukamen. »Evelyn!«
Sie verlangsamte ihre Schritte nicht einmal und erklomm bereits den verkohlten Hügel.
»Was ist los?«, fragte Ray.
»Sie hat mich nicht gehört«, flüsterte Jake und drückte Rays Hand.
»Warum hat sie geschrien? Ist alles in Ordnung?«
»Ich … ich kann es nicht sagen.« Jake beobachtete, wie Evelyn hinter dem schwarzen Hügel verschwand. Phoenix und Mare kamen gerade herunter, in der entgegengesetzten Richtung. Sie trugen etwas, das aussah wie eine große Statue. Missy mühte sich mit einem Bündel Holzpflöcke auf ihren Armen ab und folgte ihnen, allein.
Ray sondierte die Geräusche um sich herum. Da Jake ihm entweder nicht sagen konnte oder wollte, was vor sich ging, musste er es selbst herausfinden. Er hörte die heranrollenden Wellen, die gegen den Strand brandeten und sich zischend wieder zurückzogen. Die Schwingen der aufgeschreckten Vögel pfiffen noch eine Weile kreisend durch die Luft, dann landeten sie wieder mit einem gedämpften Platschen jenseits der Brandung. Wie Stoff, der auf einem Cordsofa schabt, näherten sich Schritte durch das Knistern des vor- und zurückwogenden Sandes, und der einzige Geruch, den er wahrnahm, war der des Qualms von den langsam erlöschenden Kohlefeuern in den beiden Gruben, den der Wind ihm mit einer sanften, lautlosen Brise ins Gesicht wehte.
Jake ließ Rays Hand los und kniete sich vor das dünne Kreuz. Die Schlingpflanzen waren verschwunden, ihre vertrockneten Überreste auf dem Sand zu Staub zerfallen. Wie war es möglich, dass sie vor nur wenigen Stunden noch so üppig geblüht hatten und jetzt so tot waren? Er blickte auf und sah, dass Phoenix und Mare schon fast bei ihm waren. Die Statue, die sie trugen, war ein Grabstein. Ächzend unter ihrer schweren Last gingen sie ganz vorsichtig auf den schmalen Streifen ebenen Sandes zwischen den Gräbern hindurch, ohne sie zu berühren. Jake zog das Kreuz aus dem Boden und trat zurück, damit sie die Statue der weinenden Jungfrau Maria an die richtige Stelle setzen konnten. Sie brauchten einen Moment, um den Grabstein auf dem weichen, unebenen Boden auszurichten, dann gingen sie ein paar
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