Lehmann, Christine
Nur muss es halt auch freie Plätze geben und sie müssen Katarina aufnehmen. Die Alternative ist die Ki n derpsychiatrie. Aber Katarina ist ja offensichtlich nicht psychisch krank.«
»Nein. Sie ist nur intelligenter und kreativer als die meisten ihres Alters«, entfuhr es mir. »Und herrschsüc h tiger.«
»Himmel! Sie hat Sie fast umgebracht!«
»Ja, und ich habe mich dabei gefühlt wie … wie in Second World, wie in einer virtuellen Parallelwelt, wo nichts gilt, woran wir uns gewöhnt haben. Kein Mitg e fühl, keine Hemmungen, keine Fairness. Hätten sie ein Messer gehabt, ich hätte keine Chance gehabt. Jovana hätte es mir zwischen die Rippen gerammt. Und da war nichts von blinder Wut, Katarina hat zwar spontan g e handelt, aber sie hatte immer einen Plan. Sie war umsic h tig, konzentriert, sachlich. Was für ein Potenzial! Und das alles ungenutzt. Seit Jahren passt sie auf ihre Mutter auf, sorgt für ihren Bruder. Die Eritreerin, die mit ihrem somalischen Mann unter mir wohnt, hat ihr ihre Tochter anvertraut, bedenkenlos, wie sie sagt. Und so eine steckt man in die Hauptschule. Ich denke, Katarina hatte Lust, was auf die Beine zu stellen. Nicht klagen, handeln. L ö sungen finden. Doch niemand hat ihr glaubhaft machen können, dass sie Erfolg auch dann hätte haben können, wenn sie die Spielregeln einer zivilen Gesellschaft b e herrscht. Und was sind das auch für Spielregeln: sich d u cken, brav sein, lernen, nicht gegen Lehrer kämpfen und gegen Wände rennen, Freiheit und Stolz auf später ve r schieben. So zivil ist unsere Gesellschaft ja gar nicht. Und eine Hauptschule erst recht nicht. Da brodelt überall der Krieg. Die totale Vernichtung. Überall wird getötet. Katarina hat irgendwann kein Kind mehr sein wollen, das andere herumschubsen. Und sie hat gemerkt, dass es uns Erwachsene sprachlos macht, wenn sie tut, was wir tun. Wenn sie unser Urteil nicht fürchtet, wenn sie lügt, schlägt, droht, erpresst. Das macht uns Angst. Wir we i chen zurück, wir wenden uns ab, wir geben sie auf, la s sen sie fallen und lassen sie machen. Und wir ahnen nicht mal etwas.«
Alena begann auf Richards Arm zu quengeln. Vie l leicht schlug sein Herz nicht mehr ruhig und beschü t zend.
»Tja, Kinder sind keine Engel!«, sagte Meisner. »Und Dreizehnjährige schon gar nicht. Aber das …« Sie schü t telte wieder den Kopf. »Ich verstehe nicht, Frau Nerz, wie Sie dafür erklärende Worte finden können.«
»Lisa steht noch unter Schock«, sagte Richard.
»Na hör mal!«, protestierte ich.
»Doch. Sonst würdest du nicht über virtuelle Welten reden. Zwei dreizehnjährige Mädchen haben dich heute Nacht fast umgebracht. Und das willst du nicht wahrh a ben, weil du es dir nicht hättest vorstellen können. Ich sage nicht, dass sie dich aus nichtigem Anlass töten wol l ten, denn es gibt keinen höherwertigen Anlass für Mord. Aber du konntest eben auch nicht ahnen, dass deine B e merkung, Katarina stehe eine Heimunterbringung zwangsläufig bevor, eine solch tödliche Aggression au s löst. Ohne jegliche Vorwarnung. Das ist das eigentlich Erschreckende. Dass es mit Katarina keine gemeinsame Ebene gab für Regeln, wie wir wütend werden und unsre Wut ausdrücken. Diese Mädchen sind Geschöpfe ohne Gefühlsbindungen. Sie haben keine einzige soziale Bi n dung, keine Bezugsperson, deren Wertschätzung sie nicht aufs Spiel setzen würden, um zu bekommen, was sie g e rade haben wollen.«
So wie sie seine aufs Spiel gesetzt und verloren hatten. Und das schmerzte ihn mehr als sie. Es schmerzte ihn ungeheuerlich.
»Wer nicht geliebt wird, fürchtet nicht, die Liebe eines Menschen zu verlieren.«
»Das erklärt es nicht, Lisa. Kinder lieben ihre Eltern. Schwache Eltern, sogar ungerechte und unberechenbare, sind immer noch besser als keine Eltern. Aber Katarina hat ihre eigene Mutter umgebracht. Stell dir das nur mal vor!«
Ich stellte mir vor, wie ich meine eigene Mutter u m brachte, und scheiterte schon an der Frage, wie.
»Und sie hatte es geplant, Lisa.«
Dem konnte ich nicht widersprechen. Ich hatte mir erst vor ein paar Stunden Katarinas E-Mails angeschaut, die ich auf meinem Rechner gespeichert hatte. Alle. Und ich hatte eine erschreckende Menge an Mails gefunden, die MuminX in die Welt geschickt hatte, um sie zu pr o vozi e ren und dadurch zu kontrollieren. Beispielsweise ans J u gendamt mit der Mitteilung, die Familie Abshir in der Neckarstraße wolle ihre Tochter in Somalia b e schneiden lassen, oder Nina
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