Lehmann, Christine
Vermisstenanzeige?«
»Nein.«
Darauf sagte er nichts. Kein Wort. Nicht mal ein Z u cken der Mimik. Hoffnung und Irrsinn gestattete Richard sich nur im Stillen, laut erlaubte er sich nicht zu wü n schen, was nicht denkbar war und morgen schon nicht mehr existierte. Auf einmal tat er mir fürchterlich leid. Es schnürte mir die Kehle zu, fast hätte es mir Tränen in die Augen getrieben. Ich floh in die Küche und rädelte für Cipión eine Dose Hundefutter auf. Sally und Katarina kamen, um sich Zigaretten anzuzünden.
»Ich dachte, ich seh nicht recht«, erzählte Sally, »als Richard plötzlich mit der Kleinen im Arm vor meiner Haustür stand. Du warst ja nicht da …«
Wofür ich ausnahmsweise wirklich mal nichts konnte!
»Wir sind sofort los und haben eingekauft, Pampers, Babymilch, Nachtwäsche. Fehlt nur noch ein Kinderw a gen.«
»Den könnt ihr von uns haben«, bot Katarina an. »Der von Tobi muss noch irgendwo rumfahren.«
»Und wie Richard die Kleine gewindelt hat …« Sally blies bewundernd den Rauch gegen die Küchendecke. »Als hätte er’s gelernt! Sobald er sie auf den Arm nimmt, hört sie auf zu schreien.«
»Sie wird sicherlich heute Nacht ein paarmal ko m men«, bemerkte Katarina.
Aber nicht in meiner Wohnung!, schwor ich im Sti l len.
»Übrigens, ich hab die Unterlagen mitgebracht«, eri n nerte mich Katarina an ihre Belange. »Wie Sie gesagt haben.«
Das hätte ich nicht völlig vergessen haben dürfen. Ich servierte Bier mit Alkohol für Sally, alkoholfreies für Richard und Cola für Katarina. Meine Füße waren inzw i schen warm geworden. Sie kribbelten vor Hitze. »Und deine Mutter weiß, wo du bist?«
Katarina nickte. Zwischen Pampers und Kunstmilch stand eine eselsohrige Schuhschachtel, die sie mir hi n schob. Die Dokumente darin waren nach dem einfachen und klaren Ordnungsprinzip der Schlamper geschichtet, chronologisch in umgekehrter Reihenfolge, die alten u n ten, die jungen oben. Ich begann die Schichten abzutr a gen. Richard war zwar ziemlich gehandicapt wegen der Kleinen auf seinem Arm und des von ihr okkupierten Zeigefingers, aber er stellte der Klärung des Sachverhalts immerhin seine Aufmerksamkeit zur Verfügung, sofern Alena nicht gerade hustete, knuckste oder die Schnute verzog.
Nina Habergeiß war vor zwei Jahren nach dreijähriger Trennungszeit von dem albanischen Staatsbürger Luftar Vlora geschieden worden, und zwar von Richterin Sonja Depper. Die Tochter Katarina Vlora und der Sohn Tobias Vlora waren der Mutter zugesprochen worden, sie hatte allerdings nicht das alleinige Sorgerecht. Als Vater des ehelich geborenen Sohnes Tobias hatte Nina Habergeiß beim Jugendamt Paul Grollwitz angegeben, welcher der Vaterschaft jedoch nicht zugestimmt hatte. Eine Recht s belehrung hatte Nina die Möglichkeit einer Vaterschaft s klage vor dem Amtsgericht nahegelegt, aber es fand sich kein Urteil zur Feststellung der Vaterschaft. Luftar Vlora hatte sich auch keine Mühe gemacht, die Vaterschaft a b zulehnen und eine Klärung zu verlangen, stattdessen ha t te er sich unverzüglich davongemacht. Aufenthaltsort u n bekannt. Nach der Scheidung hatte N i na Habergeiß die Änderung der Nachnamen ihrer Kinder in Habergeiß b e antragt, doch das Amtsgericht hatte den Antrag abgewi e sen. Begründung: Der Kindsvater, Luftar Vlora, habe der Änderung nicht zugestimmt.
»Wie denn auch?«, keifte Katarina. »Es hat ihn ja ke i ner gefragt, weil niemand weiß, wo er steckt. Das ist voll scheiße! Wenn du Vlora heißt, bist du gleich voll der Asi. Deshalb hab ich nur Hauptschulempfehlung b e kommen, ich schwör.«
»Die Einwilligung des leiblichen Vaters kann durch eine Entscheidung des Familiengerichts ersetzt werden«, klärte uns Richard auf, »wenn es zum Kindeswohl una b dingbar notwendig ist. Übrigens kannst du deine N a mensänderung selbst beantragen, Katarina, sobald du vierzehn bist.«
»Aber dann würde ich anders heißen als Tobi.«
»In diesem Fall wird das Familiengericht auch Tobias’ Zunamen ändern müssen. Außerdem könntet ihr euch ja mal um die Zustimmung des Herrn Vlora bemühen. W a rum sollte er sie verweigern. Er ist doch, wie ich das ve r stehe, nicht Tobias’ leiblicher, sondern lediglich jurist i scher Vater.«
»Und wie? Niemand weiß, wo er ist.«
»Das kann nicht sein, Katarina. Seine Verwandten und Freunde wissen vermutlich, wo er ist. Man muss sich halt hinsetzen und ein paar Briefe schreiben.«
»Und wer zahlt uns das Porto?«
»Katarina! Was
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