Lehmann, Christine
willst du? Klagen oder ein Problem lösen?«
Das Mädchen stöhnte. »Muss alles so kompliziert sein!«
»Warum sollte es einfach sein?«, antwortete Richard freundlich.
Katarina musterte ihn von der Seite und fing an, ihre Fingernägel zu beknabbern.
Unterschrieben war auch dieser Beschluss zur Able h nung der Namensänderung von Familienrichterin De p per. Bei Familiensachen war das Amtsgericht gehalten, die Verfahren zu bündeln und bei einem Gericht zu b e lassen. So verwunderte es nicht weiter, dass auch der Streit mit dem Jugendamt von Sonja Depper begleitet worden war. Das Elend hatte mit Hartz IV begonnen. Die Arge, zuständig für die Auszahlung des ALG II, was da s selbe war, stellte fest, dass die Wohnung, die Nina mit ihren Ki n dern bewohnte, zu groß war.
»Das war im Raitelsberg«, erklärte Katarina.
Sally verzog das Gesicht.
»Es ist ruhig«, sagte ich, »es gibt einen Aktivspielplatz mit Ponys und Ziegen und reichlich Grünanlagen run d herum.«
»Ja, in denen sich abends die Alks streiten!«
Der Raitelsberg war eine Arbeitersiedlung aus den zwanziger Jahren im roten Osten Stuttgarts. Wir gingen fast täglich mit den Hunden dort entlang, wenn ich Sally mit Senta und Cipión an der Pforte des Senders abholte. Dort hatte Mutter Habergeiß mit ihren Kindern Vlora eine Dreizimmerwohnung von 82 Quadratmetern b e wohnt. Zugestanden hätten ihnen jedoch nur 75 Qua d ratmeter. Und nachdem die Wohnungsgesellschaft die Mieten erhöht hatte, um das Viertel aufzuwerten, hatte die Miete plötzlich über dem gelegen, was die Arge für angemessen hielt. Zum Umzug hatte man sie zwar nicht zwingen können, aber das Mehr an Mietkosten selber zu zahlen, war bei 843 Euro monatlich nicht drin gewesen.
Sally zog im Kopf die Miet- und Nebenkosten von i h rem Netto ab und sagte: »Und dafür arbeite ich jeden Tag!«
Richard rechnete auch: »Das macht 28 Euro und 10 Cent pro Tag, wenn der Monat nur 30 Tage hat. Aber für drei Personen, Sally. Pro Tag hat jede der drei Personen rund 9 Euro zur Verfügung, für Essen, Fahrten, Ausfl ü ge, Kleider und Schuhe, Kino, Sportverein oder Klavieru n terricht.«
»Weißt du, was Tierarztrechnungen kosten!«
»Tobi hätte auch immer so gern einen Hund gehabt«, sagte Katarina. »Und ich hätte gern Gitarre gelernt.«
»Aber leider ist fast die Hälfte deines Tagesbudgets weg«, bemerkte Richard, »wenn du dir eine Schachtel Zigaretten kaufst.«
»Sie rauchen doch auch!«
»Aber ich bin über fünfzig und verdiene gut. Übr i gens, Sonja Depper hat mal drei Monate lang vom A r beitsl o sengeld gelebt. Und es geht, fand sie.«
»Ja«, schnaubte ich, »und als die drei Monate rum wa ren, ist sie Schuhe kaufen gegangen. Und aus ihrer Wo h nung ausziehen hat sie auch nicht müssen.«
Dagegen hatte die Familie Habergeiß-Vlora sich eine neue Wohnung gesucht und sie bei mir im Haus unterm Dach gefunden, 69 Quadratmeter, Küche, Bad und zwei Zimmer. Die Arbeitsagentur zahlte den Umzug, sie hatte ihn schließlich gefordert. Die Miete samt Nebenkosten lag nun zwar auch nur 2 Euro unter der vorigen, aber die Arge war’s zufrieden. Nicht jedoch das Jugendamt.
Kurz nach ihrem Einzug, schilderte Katarina, sei eine Jugendhelferin des Diakonischen Werks bei ihnen aufg e taucht, mit bösem Blick durch die Wohnung gegangen, habe mit dem Finger hierhin und dorthin gedeutet und dazu Befehle erteilt: »Des misset Se ä ndre!« Das Kinde r bett für Tobias zu klein, keine Badewanne vorhanden, der Herd ungeeignet, weil ohne Backofen, Mikrowelle n kost ungesund, vor allem für Tobias, die Kinder hätten keinen Platz für Schularbeiten, Tobias sei in der En t wicklung zurückgeblieben und müsse regelmäßig in den Kindergarten. Und überhaupt sei die Wohnung schlecht g e schnitten und zu klein.
Die Kinder hatten sie die »Desmissetse« genannt, während Nina Habergeiß Angstzustände bekam. Desmi s setse ließ kein Argument gelten, weder dass Tobias nicht in den Kindergarten wolle, noch dass Baden für seine Haut schlecht sei oder dass er außer Spaghetti mit roter Soße ohnehin kaum etwas essen wolle und auf die Hälfte aller Gemüsesorten allergisch reagiere. Noch vier- oder fünfmal ging Desmissetse durch die Wohnung, die Mänge l liste wurde immer länger, der Ton fordernder. Dann machte sie Meldung, dass die Verhältnisse untragbar se i en, die Mutter jegliche Kooperation verweigere und mit der Erziehung und Versorgung der Kinder hoffnungslos überfordert sei. Ein Gespräch mit Frau
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