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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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gedacht!« Ich streckte ihm meine Hand hin. »Lisa.«
    »Ralf«, antwortete er. »Du willst zu den Leidenfrosts? Versteh mich nicht falsch. Aber ich kümmer mich halt um die Leut hier. Helf ihnen bei Amtsgängen, sind ja vi e le Ausländer hier. Nach der Sache mit dem Jugendamt …«
    »Ich bin nicht vom Jugendamt.«
    »Was bist du dann?«
    »Ich bin ich. Nina Habergeiß wohnt bei mir im Haus.«
    Ralf ließ den Rauch an seinem linken Nasenloch vo r beipfeifen und kniff das linke Auge zu. »Neckarstraße. Die Wohnung habe ich Nina besorgt.«
    »Gestern hat das Jugendamt ihren Tobias geholt.«
    »So’n Hureseich!« Er zog an der Kippe und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen.
    Ich steckte mir die Zigarette zwischen die Lippen, zog sie mit Daumen und Zeigefinger wieder heraus, die Glut in die Handfläche gekehrt, inhalierte und blies, schlitzte die Augen und blickte in den grauen Himmel. Morgen schneit es, dachte ich.
    »Also gut«, sagte Ralf, »ich bring dich hin.« Er deut e te die Heidlesäcker hinab in Richtung Röntgenstraße. »Der Tilo hat den Job verloren. Nicht wegen der Finan z krise. Der ist fertig. Anwaltsschulden hat er, und jetzt, wo er die Hompetsch hat dichtmachen müssen, kommen keine Spenden mehr rein.«
    Wir kamen an den Ostrand des Raitelsbergs und wan d ten uns Richtung Hackstraße. Über den entlaubten Bä u men der Grünanlagen erhob sich unheimlich nah der Gaskessel, der sich überall im Osten in die Perspektiven der Straßenfluchten drängte. Am Ende des Häuserzugs blieb Ralf stehen und deutete auf eine Tür.
    »Gehst du nicht mit rein?«, fragte ich.
    »Das hat keinen Wert.« Ralf steckte sich eine neue Z i garette ins Gesicht. »Die Leut sind zu mir gekommen und haben sich beschwert. Sieben Kinder in der Wo h nung, auch wenn es eine Doppelwohnung ist, und das achte unterwegs. Die Waschmaschine läuft zweimal am Tag, und die Wasserkosten werden ja normal auf alle Parteien im Haus umgeschlagen. Und hier hat keiner eb bes zum verschenken. Und dann der Lärm! Die drei Buben sind oft den ganzen Nachmittag auf der Gass he rumgehängt und haben Unsinn gemacht. Und jetzt denken Lea und Tilo, ich hätte sie beim Jugendamt ang e zeigt.« Ralf hu s tete. »Hier hat’s mal einen Fall gegeben, wo ein kleines Kind verhungert ist. Damals ist das Ju gen d amt zu spät gekommen. Ich weiß nicht, wer die Leide n frosts angezeigt hat. Aber sie haben es sich selber zuz u schreiben. Sie haben unbedingt fürs siebte Kind die P a tenschaft vom Bundespräsidenten haben wollen. 500 E u ro sind halt auch Geld. Beim Festakt im Rathaus ist der Flo rian so herumgesaut, dass ebbes zu Bruch gega n gen ist. So sind sie aufmerksam geworden. Es hat gehe i ßen, der Fl o ri hat Defizite in seiner Entwicklung. Aber die Lea ist gleich störrisch geworden und hat sich nac h her von der Familienhelferin auch nix sagen lassen wo l len.«
    Der Alte ließ den Blick schweifen. Hinter den Bäumen rauschte der Verkehr die nahe Hackstraße hinunter zum Gaskessel am Neckar.
    »Es gibt welche, die sagen, es war höchste Zeit g e wesen. Acht Kinder! Da kann man sich als Eltern doch gar nicht kümmern. Die Kinder müssen sich gegenseitig he l fen bei den Schulaufgaben und so. So ein Hureseich! Ich hab fünf Geschwister gehabt, wo alles noch Dre i zimmerwo h nungen waren. Zu dritt haben wir in den Betten geschl a fen. Und Schläge hat’s gegeben, wenn wir was angestellt hatten. Die Mutter hat uns auch nicht vorgel e sen, und wenn’s mit der Schule nicht geklappt hat, hat die Schwester helfen müssen. Im Haushalt hat sie sowi e so mitgeschafft, und ich habe beim Schuster ausgeholfen, wo ich vierzehn war. Das war damals so. Ich sag nicht, dass es heut so sein muss. Die Zeiten ä n dern sich. Aber die Kinder von der Lea haben jeden Tag eine warme Mahlzeit gekriegt, sie haben warm anzuzi e hen gehabt und jedes sein eigenes Bett. Und in die Sch u le sind sie auch gegangen. Die Celine sogar aufs Gymn a sium.«
    Er erzählte noch eine Weile vom Krieg, dann trat er die Zigarette aus. »Wenn du da jetzt raufgehst, sei so gut und mach ihnen keine Hoffnungen. Der Tilo ist so schon ganz spinnet.«
    »Okay.«
    Der Alte äugte mir scharf ins Gesicht. Dann drehte er sich um und ging die Straße hinauf.
    Ich klingelte. In der Gegensprechanlage meldete sich eine Frauenstimme. »Ja?«
    »Ich weiß, wo Ihre Kinder sind«, sagte ich.
    Die Schließanlage klickte. Eine Treppe höher stand eine ziemlich schwangere Frau. Ihr Blick weitete sich, als sie

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