Lehmann, Christine
die Hunde sah. »Die können Sie nicht reinbringen«, sagte sie. »Meine Kinder sind allergisch.«
Im Treppenhaus stand zwar ein Kinderwagen, aber hätte ich die Hunde daran angebunden, hätte niemand mehr zur Haustür hinein- oder hinausgekonnt. Also raus vor die Tür. Da mickerte ein geeignetes Gebüsch.
Die Wohnung war spärlich möbliert, die Kinderzi m mer mit Bettchen und Spielsachen wie tot. Auf den L i noleumböden lagen keine Teppiche, wegen der kindl i chen Allergien, obgleich es derzeit außerhalb von Leas Bauch keine Kinder gab. Sie führte mich durch den Gang in ein Wohnzimmer, in dem ein Esstisch den ga n zen Platz wegnahm. In der Ecke klemmte ein Arbeit s tisch mit Akte n ordnern und Computer. Ein hagerer Mann stand auf.
»Die kann uns sagen, wo unsere Kinder sind«, sagte Lea.
»Mein Name ist Lisa Nerz. Ich bin Journalistin.«
»Vom Fernsehen?«, fragte Lea angstvoll. Aber Gier glitzerte in ihren blauen Augen.
»Nein, Zeitung.«
Enttäuschung sackte ihr in die Mimik. »Wir wollen nämlich nicht mehr, dass über uns berichtet wird. Sonst sehen wir unsere Kinder nie wieder. Das hat uns der J u gendamtsleiter klipp und klar gesagt, wortwörtlich: ›Sie sehen Ihre Kinder nie wieder, wenn Sie weiter so ein ö f fentliches Bohei machen!‹ Mein Mann hat sogar die Homepage geschlossen, weil wir befürchten, dass unsere Kinder dafür büßen müssen. Sie wollen sie in neue Fam i lien stecken, weil die Familien, wo sie jetzt sind, ange b lich Angst haben, dass sie durch die öffentliche Au f merksamkeit aufgespürt werden.«
Sie bekam Schluckauf. Tilo legte seiner Frau die Hand auf die Schulter, langte mit der anderen Hand einen handgeschriebenen Brief vom Computertisch und reichte ihn mir. »Das hat uns unsere Tochter Celine kürzlich g e schrieben. Jemand hat ihn rausgeschmuggelt. Lesen Sie ruhig!«
Celine schrieb, dass es ihr gut gehe, und in derselben Zeile, dass sie total unglücklich sei, dass sie Sehnsucht habe nach ihren Geschwistern und nach Mama und Papa, dass niemand ihr sage, wann sie wieder nach Hause dü r fe, dass man ihr ein eigenes Zimmer gegeben und einen Schreibtisch für sie angeschafft habe und sie nun Angst habe, dass sie niemals mehr von dort wegkomme, dass sie gute Noten habe und dass Pflegemama zu ihr gesagt habe, dass sie, Celine, jetzt wohl einsehe, dass sie in der Pflegefamilie besser aufgehoben sei als zu Hause. Und da sei sie wütend geworden und habe gesagt, jetzt werde sie nur noch schlechte Noten schreiben. Daraufhin habe es ein Gespräch mit der Tante vom Sonnennest gegeben, und sie hätten ihr Zimmer durchsucht, ob sie Briefe b e kommen habe, aber nichts gefunden, und dann hätten sie gesagt, dass sie in eine andere Familie ganz weit weg kommen würde, wenn ihre Eltern sie weiterhin gegen die Pflegeeltern aufhetzen würden. »Ich habe euch lieb«, e n dete der Brief. »Ich bete jeden Abend eine Stunde, dass wir bald wieder alle zusammen sein dürfen. Ich habe euch ganz doll lieb, C.«
»Vorgestern ist sie zwölf geworden«, sagte Lea. Sie lächelte dabei. »Und wir konnten sie nicht einmal anr u fen. Unsere Briefe bekommt sie nicht. Und sie weiß nicht, ob wir ihre Briefe bekommen.«
»Warum läuft sie nicht einfach weg?«, fragte ich.
Tilo und Lea blickten sich an. Lea antwortete unter Schluckauf: »Sie wird überwacht. Man bringt sie zur Schule, holt sie ab. Und sie brauchte Geld für den Bus oder die Bahn. Außerdem hat man ihr erklärt, dass sie ins Heim kommt oder ganz weit weg, wenn sie versucht wegzulaufen.«
»Wie sind Sie an diesen Brief gekommen?«, erkundi g te ich mich.
Tilo griff noch einmal auf seinen Schreibtisch. »Er kam vor zwei Wochen in diesem Umschlag.«
Ein Absender fehlte. Aber der Brief war in Stuttgart abgestempelt worden. Die Adresse stammte aus einem Computerdrucker und stand auf einem Aufkleber. Die Hausnummer stimmte nicht.
»Wir vermuten«, sagte Lea, »dass jemand, der die Familie besucht hat, den Brief adressiert und eingewo r fen hat.«
Ich hätte mir noch andere Methoden denken können, einen Briefwechsel aufzubauen. Mit zwölf war ich nicht sonderlich schlau gewesen, aber wie man geheime Bo t schaften hinter dem Rücken von Aufsichtspersonen ve r schickte, das hätte ich gewusst.
»Ganz am Anfang«, erzählte Lea, als hätte sie meine Gedanken gelesen, »hat Celine uns Briefe über eine Klassenkameradin geschickt. Aber das ist herausgeko m men. Vermutlich haben die Eltern der Schulfreundin was gesagt. Wir wissen es nicht.
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