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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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die eine Seite nicht anpeilen konnte, seine Herkunft, der sah auch nie die andere, seine Z u kunft. Das war Leben im Blindflug.
    Keine Panik, Lisa! Blindflug ist dein Leben! Trink erst einmal einen Kaffee. Nach der ersten Zigarette rief ich Sally an. Sie nahm nicht ab, weder zu Hause noch auf ihrem Handy oder im Sender. Wahrscheinlich hatte sie sich jetzt mit Katarina gegen mich und das Jugendamt verbündet und als Erstes eine Kontaktsperre eingerichtet. Ich rettete mich in eine To-do-Liste. Den Zettel, den ich bei Deppers Leiche aus Alenas Gesicht genommen hatte, musste ich auch dringend finden! Und Ordnung in meine Recherchen bringen! Einen Plan machen.

18
     
    Planvolles Handeln war nicht mein Ding. Deshalb fluc h te ich nicht, als es an meiner Tür klingelte, zögerlich und leise. Es war die Türkin von unten. »Darf ich mit Ihnen reden?«, fragte sie.
    »Aber immer.«
    Missbilligend ließ sie den Blick über die Unaufg e räumtheit des Zimmers gleiten, entschloss sich dann aber offenbar, die befremdlichen Züge meines Wesens zu i g norieren, und stellte sich mir als Nadifa Abshir vor. »Ich habe heute früh Ihren Artikel in der Zeitung über Frau Habergeiß gelesen. Das Jugendamt hat ihr den Sohn weggenommen. Das ist doch Ihr Kürzel unter dem Art i kel? Sie schreiben ja für die Zeitung?«
    Ich bot Kaffee an, räumte einen Stuhl frei und nötigte sie, sich zu setzen. »Worum geht es?«
    »Mein Mann kommt aus Somalia.«
    Also kein Türke.
    »Und ich bin in Eritrea geboren …«
    Und sie auch nicht.
    »Mein Vater musste fliehen. Ich lebe seit zwanzig Ja h ren in Deutschland.«
    »Sie sprechen sehr gut Deutsch«, bemerkte ich.
    Nadifa Abshir lächelte gequält. »Ich habe studiert. Meinen Mann habe ich in Äthiopien kennengelernt. Ich war dort mit einer Hilfsorganisation nach dem Abitur. Mein Mann ist Ingenieur. Er arbeitet bei Bosch. Wir sind Deutsche, wir haben deutsche Pässe.«
    Warum zum Teufel musste sie dann ein Kopftuch tr a gen?
    »Wir haben eine Tochter … Almaz.«
    Ich nickte.
    »Sie ist zehn Jahre alt. Sie hätte jetzt zu Weihnachten ihre Großeltern in Mogadischu besuchen sollen. Meine Schwiegermutter ist krank. Es könnte sein, dass es die letzte Gelegenheit ist, dass Almaz ihre Großmutter ke n nenlernt. Aber nun hat uns das Jugendamt die Reise ve r boten.«
    »Warum?«
    »Sie glauben, dass Almaz dort beschnitten werden soll. Sie wissen, was das ist, eine Beschneidung bei Mä d chen. Man entfernt die Schamlippen und die Klitoris …«
    Ich nickte. Hinlänglich bekannt, keine Details bitte!
    »Almaz hat nach den Sommerferien in der Schule e r zählt, dass sie zu Weihnachten ihre Großeltern in Som a lia besuchen werde. Die Lehrerin hat dann im Lehre r zimmer behauptet, Almaz solle dort beschnitten werden. Sie war sogar bei uns und hat versucht, uns davon abz u bringen. Als ob wir das jemals vorgehabt hätten. Dann haben wir einen Brief bekommen von einem Verein g e gen Genita l verstümmelung. Wir haben nicht geantwortet. Wir sind Deutsche, wir müssen uns nicht rechtfertigen. Dann kam ein Brief vom Jugendamt, und wir mussten vor Gericht. Natürlich sind wir gegen die Beschneidung. Auch meine Schwiegereltern sind dagegen. Sie sind g e bildete Leute. Mein Schwiegervater ist pensionierter Arzt, meine Schwiegermutter Lehrerin. Sie sind zur deu t schen Botschaft gegangen und haben Unterlagen vorg e legt, dass sie gegen die Beschneidung von Mädchen sind und dass ihre sieben Töchter nicht beschnitten sind. Die Richterin hat uns zuerst auch geglaubt. Aber dieser Ve r ein hat keine Ruhe gegeben. Eine von denen hat sogar am Arbeitsplatz von meinem Mann angerufen und einer Sekretärin g e genüber behauptet, wir wollten unsere Tochter zur Beschneidung nach Somalia schicken. Fre m de Leute haben uns Briefe und meinem Mann E-Mails in den Betrieb geschickt. Sie haben uns beschimpft. Das Jugendamt hat verlangt, dass wir uns verpflichten, unsere Tochter einmal im Jahr einem Arzt vorzuführen. Wir h a ben uns geweigert. Daraufhin gab es wieder eine G e richtsverhan d lung. Ich glaube, der Verein hat beim Chef vom Jugen d amt Druck gemacht. Wir haben versucht, Beweise beiz u bringen, Unterlagen, Briefe. Aber die Richterin hat g e sagt: ›Was glauben Sie denn! Das nehme ich gar nicht zur Entscheidung an, wir sind doch keine Poststelle. ‹ Sie hat in Wikipedia nachgeschaut. Da steht: ›In Somalia sprechen sich islamische Geistliche heute auch gegen die weit verbreitete Beschneidung von Mä d chen aus.‹ Das

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