Lehmann, Christine
heißt, Beschneidung sei weit verbreitet. Und Almaz sei in dem Alter, wo Mädchen beschnitten werden. Nun darf sie Deutschland nicht verlassen. Was können wir tun? Almaz wacht jede Nacht auf und weint. Sie hat Angst, dass das Jugendamt kommt und sie abholt. Sie will auch nicht mehr in die Schule gehen. Sie übe r gibt sich morgens. Sie sagt, die Buben nennen sie E u nuch!«
»Wie heißt die Richterin?«, fragte ich.
»Frau Depper. Es ist dieselbe Richterin wie bei Frau Habergeiß, nicht wahr? Katarina hat mir das erzählt.«
»Katarina?«
»Sie ist seit dem Sommer oft bei uns unten gewesen. Sie und Tobias. Katarina ist ein gutes Mädchen. Reif für ihr Alter. Ich konnte ihr Almaz immer bedenkenlos a n vertrauen. Sie sind zusammen zum Abenteuerspielplatz am Raitelsberg gegangen. Das arme Mädchen. Was wird nun aus ihr?«
»Ist Ihnen bekannt, dass diese Richterin Depper tot ist?«, fragte ich.
»Tot?« Einen Schimmer von Hoffnung und Befried i gung konnte Nadifa Abshir doch nicht verbergen. »Aber das ändert nichts, nicht wahr?«
»Richterin Depper wird zumindest keinen Beschluss mehr unterzeichnen, der Ihnen das Sorgerecht für Ihre Tochter entzieht und eine Inobhutnahme anordnet.«
Die Frau zippelte das Kopftuch zurecht und überlegte.
»Und was wollen Sie, dass ich tue?«, erkundigte ich mich und verwarf all meine guten Vorsätze, planvoll zu handeln.
»Mein Mann ist dagegen, dass ich mich an die Presse wende«, sagte die Frau. »Aber allein sind wir ohnmäc h tig, sage ich. Und nur, weil ich Kopftuch trage, sind wir noch nicht …«
»Warum tragen Sie denn Kopftuch?«
Die Frau starrte mich an. »Muss ich mich dafür rech t fertigen?«
»Ja!«, antwortete ich. »Wenn Sie wollen, dass ich I h nen helfe. Einen Punk mit dem Anarchie-A auf der Jacke halte ich für einen, der sich mit der Polizei kloppt, einen Glatzkopf mit Schnürstiefeln für einen Neonazi und eine Muslimin mit Kopftuch für eine Traditionalistin, die mit der Unfreiheit der Frauen einverstanden ist. Symbole sind Symbole. Und erklären Sie mir nicht, sie trügen di e se Kopftücher, weil Sie die Muster so toll finden!«
19
Was ist das eigentlich für ein Verein?, fragte ich mich, nachdem Nadifa Abshir mir die komplexen Gründe e r läutert hatte, in der deutschen Gesellschaft Kopftuch zu tr a gen und so ihre muslimische Identität zu bewahren, und gegangen war. Ich tippte »Verein« und »Genitalve r stümmelung« in meine Googlesuche.
Es erschien eine aufgeregte Seite mit dem Titel: Kampf der Genitalverstümmelung, kurz VKG. Dazu F o tos lachender schwarzer Mädchen und ernste Texte, in denen verlangt wurde, dass alle in Deutschland lebenden Mädchen aus Risikogruppen bis zu ihrem 18. Lebensjahr mit einem Ausreiseverbot belegt wurden. Das Impressum wies eine Postfachadresse mit Telefonnummer in Ma g stadt aus. Vertretungsberechtigt: Rosalinde Baphomet.
Da schau her. Die Frau von Ambrosius Baphomet, Leiter des Sonnennests, wollte das Gute und schuf Angst und Unglück. Und irgendwo auf dem Weg durch Stut t gart, den die Freude der kleinen Almaz Abshir über die Reise zu ihren Großeltern von der Lehrerin bis ins Ju gen d amt genommen hatte, hatte Rosalinde Baphomet aus dem Sonnennest gestanden.
Ich stocherte Richards Kurzwahl aus meinem Handy.
»Wo bist du gerade?«
»Auf dem Königssträßle, mit Alena spazieren.« Da ging es steil durch den Wald zum Fernsehturm hinauf.
»Hast du Zeitung gelesen?«
Er gab ein Geräusch von sich, das ich als »Wann denn?« interpretierte.
»Nina Habergeiß hat sich umgebracht. Gestern, ir gen d wann im Lauf des Tages. Katarina und ich haben sie ge s tern Abend gefunden. Auf der Kommode bei ihr zu Ha u se lag ein Beschluss über die Inobhutnahme von T o bias. Unterzeichnet von Sonja Depper, am Morgen ihres T o des. Das war wohl der Auslöser.«
»Heilandsack! Das hat grad noch g’fehlt!« Richard konnte sakrisch wütend werden. Dann war er weder sac h lich noch gerecht. »Was mischt diese Satansbrut sich auch ein und rettet auf Teufel komm raus! Kinder in G e fahr! Und kein Beweis des Gegenteils fruchtet. Und he r nach sind Familien zerrissen, traumatisiert , einsam und voller Hass. Wahrlich, in den bösen Taten zeigt sich der Teufel, in den guten versteckt er sich.«
Ich hörte ihn keuchen, den Berg hinauf mit Kinderw a gen und pietistischen Ahnen auf dem Buckel, und schwieg taktvoll.
Dann fragte er: »Wann wolltest du heute zu deiner Mutter fahren?«
»Von wollen kann keine Rede
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