Lehmann, Christine
schlagartig den Mund zu.
»So geht des aber fei net!«, erboste sich dafür Oma Scheible. »Des Kindle hat grad die Mutter verl o re! Und der Bruder isch au weg! Und Sie wellet se in die Klapse schtecke, zu dene Schizophrene?«
Katarina brach in Tränen aus. Oma Scheible legte den Arm um sie. »Mir zwei ganget jetzt mal in die Küch und schauet, ob mir was zum esse findet. Und na schauet mer, wo du heut auf d’Nacht schlafe kasch. Und wenn der Herr Teixel aufm Türvorleger übernachte will, na soll er halt. Aber kriege tut der dich heut net. Des war Hau s frie densbruch!«
Teixel muckte auf, hätte aber zulangen müssen, um die Alte aufzuhalten. Die beiden verschwanden hinter einer Tür. Teixel drückte sich die Finger in die Augen. Ve r mutlich war er eigentlich ein ganz knitzer Typ, so einer, den sechzehnjährige Jungs mochten, nicht weil er auf Kumpel machte, sondern weil wer Regeln aufstellte und beim Kicken unschlagbar war.
Im Treppenhaus trampelten Leute die Holztreppe he r ab. Der Transportsarg wurde um die Ecken gewuchtet. Eine Polizistin blieb an unserer Tür stehen. »Alles in Ordnung?«
Ich nickte. »Danke.«
»Wir haben ja Ihre Angaben?«
»Haben Sie.«
»Gute Nacht dann.« Sie verschwand.
Inzwischen hatte sich Herr Teixel wieder gefasst. »Ich kann das eigentlich nicht mehr«, sagte er leise. »Meine Frau ist krank. Krebs. Wir werden sie nicht mehr lange haben. Da sieht man die Dinge anders. Das Leben lässt sich nicht planen, nicht regeln. Wir können nicht jedes Leid abwenden. In Afrika verhungern die Kinder, sie werden missbraucht, zu Soldaten ausgebildet. In China und Indien müssen sie arbeiten. Zehnjährige leimen Pla s tikarmbänder zusammen, die meine Töchter für ein paar Cent kaufen und zwei Tage tragen. Die Kinder h a ben vom Sitzen und Arbeiten verkrüppelte Beine. Und wir hier sehen das Kindeswohl schon gefährdet, wenn Eltern mit Bildungsdefiziten den Abend in der Kneipe verbri n gen und die Kinder daheim sich selbst überla s sen.«
»Lassen Sie das Ihre Chefin Hellewart aber besser nicht hören!«, sagte ich.
Er versuchte ein Lächeln. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Was diese Eltern mit ihren Kindern machen, ist ein Verbrechen! Aber was tun wir alle miteinander e i gentlich anderes, als uns gegenseitig herumzuschubsen. Der Stärkere schubst den Schwächeren. Und die Schwächsten sind immer die Kinder. Sie sind unserer Willkür ausgeliefert. Der elterlichen Gewalt, wie man so sagt. Selbst wenn die Eltern noch so sehr das Beste wo l len, es ist doch immer Gewalt, irgendwo. Verstehen Sie?«
Auf einmal war es ganz still im Haus. Der Jugendb e amte vom Notfalldienst wischte sich mit dem Tasche n tuch über die Stirn, schnäuzte sich und blickte mich mit gereinigter Miene an. »Wegen mir könnte Katarina die Nacht hierbleiben. Aber die Chefin steigt mir aufs Dach.«
Ich grinste ihn an. »Nehmen Sie Katarina mit! Das würde mir gut in den Kram passen. Ich bin Journalistin, Schwabenreporterin Lisa Nerz. Vielleicht haben Sie ja mal was von mir gelesen. Und das kommt gut in der Ze i tung: Jugendamt nimmt Mutter kleinen Jungen weg, Mutter bringt sich daraufhin um, Jugendamt will trauernde Toc h ter ins Bürgerhospital einweisen.«
»So ist das doch nun wirklich nicht!« Teixel seufzte. »Wir haben speziell geschulte Kräfte. Sie können Katar i na bei der Bewältigung ihres Kummers helfen, ihr Leben s perspektiven aufzeigen. Für so was sind wir da. Das kö n nen wir gut!«
»Mag sein. Aber solange es unmöglich scheint herau s zufinden, wo Tobias steckt …«
Teixel runzelte die Stirn.
»Frau Hellewart konnte darauf heute Vormittag keine Antwort geben. Und anscheinend ist die Suche bis heute Abend erfolglos geblieben.«
»Sie haben sich ja mächtig reingehängt«, bemerkte Teixel.
In mir gab es einen Knacks. »Zu wenig. Sonst wäre Nina Habergeiß vielleicht jetzt nicht tot.«
Teixel schwieg anteilnehmend.
»Auf ihrer Kommode lag ein Brief vom Gericht, ein Beschluss zur Inobhutnahme von Tobias. Hätte ich heute bei ihr geklingelt … hätte ich mit ihr geredet … Aber was hätte ich ihr sagen können? Wenn das Jugendamt ein Kind einmal hat, kriegt man es nicht so leicht wieder.«
»Manchmal ist es für Eltern eine Erleichterung, wenn man sie vorübergehend von der Erziehungsverpflichtung freistellt. Auch wenn sie nach außen hin um ihre Kinder kämpfen, weil sie sonst schlecht vor sich selbst und den Nachbarn dastehen. Und für Suizid gibt es immer mehr e re Gründe.
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