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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mit Teufelsg'walt
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Familiengeschichten vom Vater, von Tobi, von ihrer Mutter. »Ich bin schuld, dass sie sich haben scheiden lassen. Wenn ich nicht i m mer so frech zu Papa gewesen wäre …«
    »Unsinn«, sagte ich. »Eltern lassen sich scheiden, weil sie nicht mehr miteinander können, nicht weil die Kinder nicht brav sind.«
    Katarina guckte ziemlich, als wir von Brontë s Par k platz durchs Stuttgarter Reeperbähnle zum Tauben Spitz gingen. Eine Dreizehnjährige hatte genau genommen kurz vor Mitternacht auch nichts in einer Weinstube ve r loren. Sally demonstrierte kalte Schulter, als wir eintr a ten. Aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Ich erklärte ihr, wer Katarina war und warum wir hier waren, und Sally wäre nicht die gute mitfühlende Sally gewesen, die jeder – allerdings meist vierbeinigen – Kreatur He r berge gab, wenn sie in diesem Moment ihre Wut auf mich nicht hintangestellt hätte. Sie war sofort bereit, K a tarina für diese Nacht zu sich zu nehmen. Und zwar ohne sich, mir oder Katarina die mahnende Frage zu stellen, wie wir uns das eigentlich auf lange Sicht gedacht hatten. Wir dachten gar nichts in dieser Nacht.
     
    Um eins lag ich allein in meinem großen Bett und konnte nicht schlafen. Sobald ich wegdämmerte, sah ich den bolligen Schatten der Erhängten im Badezimmer. No r male Menschen sahen nie eine Leiche in ihrem Leben, ich ha t te schon viel zu viele gesehen, und die von Nina Habe r geiß war die eine Leiche zu viel. Die es vermutlich nicht gegeben hätte, wenn ich aufmerksamer gewesen wäre, wenn ich am Vormittag noch einmal zu Nina hi nau f gegangen wäre, um taktvoll und einfühlsam mit ihr zu r e den. Wenn ich mich gekümmert hätte!
    Sally hatte recht. Ich dachte nur an mich und mein Vergnügen. Ich machte es mir zu leicht. Das hatte auch meine Mutter immer gesagt.
    Morgens gegen sechs wachte ich auf und lauschte. Gleich mussten die Damen vom Jugendamt klingeln. Wie soll es weitergehen?, fragte ich mich. Und wenn ich das Sorgerecht beantragte? Aber wollte ich jeden Morgen aufstehen, Frühstück machen, Katarina in die Schule treiben, den Hausaufgabenstreit durchfechten, den Kampf gegen ungute Einflüsse von Peergroups und das Kom a saufen aufnehmen und verlieren? Ich fragte es mich ernsthaft, obgleich es gar nicht zur Debatte stand. Kein Familiengericht der Welt würde mir das Sorgerecht für Katarina zusprechen. Und keineswegs erwartete K a tarina die Hölle, vor der Sally und ich sie schützen zu müssen gemeint hatten. Im Gegenteil. Eine gut organ i sierte Betreuung war ihre einzige Chance.
    Unter der Dusche haute es mir dann die Füße weg. Buchstäblich. Zitternd hockte ich unter der heißen Bra u se, wischte mir das Wasser aus den Augen, das immer wi e der nachlief, und fragte mich, wie andere das mac h ten, dass sie ›ich‹ sagten und dabei wussten, wen sie meinten. Wenn ich war, was ich tat, dann musste ich an diesem Freitag dem Schrecklichen tröstende Mutter für Katarina sein helfendes Eheweib zur Entlastung von Richards V a terfreuden, dienende Freundin für Sally, detai l versessene Detektivin in Sachen Sonja Depper, schnelle Eingrei f truppe in Sachen Entführungsfall Tobias Vlora, invest i gative Journalistin im Kampf gegen den Machtmis s brauch des Jugendamts, Sozialdienst und A n wältin für die verzweifelten Leidenfrosts und schließlich li e bende Tochter meiner Mutter, die mich am Spätnachmi t tag mit Apfelkuchen erwartete.
    Wie schafften es andere Leute – Richard zum Beispiel oder Sally –, privat anders zu sein als beruflich, einem Chef, einer Kollegin, einer Freundin, einer Verkäuferin oder einem Säugling gegenüber den angemessenen Ton zu treffen, ohne darüber in Verwirrung zu geraten, ob sie noch dieselbe Person waren? Mein Kleiderschrank half mir diesmal auch nicht weiter. Weder mein Sortiment von Herrenanzügen, Krawatten und Hemden noch meine Accessoires aggressiver Weiblichkeit wie Lackstiefel, Netzstrümpfe oder Minirock würden heute irgendetwas beitragen können zur Definition von Lisa Nerz. Aber o h ne Definition konnte ich nicht auf die Straße. Die Angst saß tief und verweigerte mir ihren Namen.
    Wahrscheinlich fühlten sich Waisenkinder so oder Adoptierte, die ihre Eltern nicht kannten und sich in i h ren Lebensabschnittseltern nicht wiederfanden, weder mit ihrem Zorn noch mit ihrer Angst noch mit ihrer m u sikal i schen Begabung oder gewalttätigen Neigung. Wenn eine Kompassnadel auf West stand, zeigte die andere Spitze nach Ost. Doch wer

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