Lehmann, Christine
Tor stand offen. Bekle m mung befiel mich, als ich meinen Fuß auf das Grun d stück des Kinderheims setzte. Jedes Kind, das hier he r umsprang, hatte eine dramatische Geschichte. Und de n noch sahen sie aus wie ganz normale Kinder in einem x-beliebigen Kindergarten. In Jacken und Stiefel gemu m melte Zwerge rannten herum. Ein schwarzer Neufun d länder rannte mit. Vor einem Stallgebäude dösten zwei zottelige Ponys. Das Fachwerkschlösschen mit den bu n ten Spielanlagen glänzte glücklich im fahlen Dezembe r sonnenschein.
»Ich bin vom Stuttgarter Anzeiger «, erklärte ich der jungen Frau, die auf die Kinder aufpasste. »Ich möchte eine Reportage schreiben.«
Sie verwies mich ins Büro im ersten Stock. Der G e ruch nach Heimweh steckte im Haus, ein Geruch nach Gulasch mit Klößen, Toilettenreinigungsmitteln und Pfefferminztee. Die Tür neben dem Schild »Büro« stand halb offen. Die Sonne schien herein auf ein humanitär bewegtes Chaos von Büchern, Broschüren, unausgepac k ten Postpaketen, afrikanischen Figuren, Aktenordnern und Computertisch. Eine zierliche Frau in Pluderhose, Batikbluse, naturgegerbten Flachschuhen und Seide n halstuch von violett-orangefarbener Mischung saß hinter dem Flachbildschirm.
»Frau Baphomet?«, erkundigte ich mich.
Sie stand auf, ohne nennenswert größer zu werden. Ihr Lächeln war freudig, wenn auch in tiefe Falten eingelegt.
»Ich bin Lisa Nerz vom Stuttgarter Anzeiger . Es geht um die Reportage für die Sonntagsbeilage, die ich schre i ben will. Man hat Sie Anfang der Woche angerufen de s wegen.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ich habe A n fang der Woche einen Anruf von der Redaktion beko m men, dass ich heute hier sein soll. Der Fotograf ist leider krank geworden. Er kommt nächste Woche.«
»Mit wem haben Sie das denn ausgemacht?«, erku n digte sich Rosalinde Baphomet.
»Nicht ich, die Redaktion. Und mit wem die gespr o chen haben, weiß ich nicht.«
»Ich weiß zwar nichts davon, aber meinetwegen.« Ro salinde Baphomet wirkte nicht wie jemand, der die Pre s se scheut. »Ich muss allerdings vorausschicken, dass uns sehr daran gelegen ist, die Identität der Kinder nicht preiszugeben. Sie dürfen keines der Kinder nach seinem vollen Namen fragen, und unter gar keinen Umständen dürfen Sie in Ihrem Bericht einen Namen nennen. Ihr Fotograf wird auch keine Kinder fotografieren dürfen, oder die Gesichter müssen unkenntlich gemacht we r den.«
»Alles klar.«
»Wissen Sie, manche Kinder müssen vor ihren Eltern geschützt werden. Wenn die Eltern ihre Kinder in einem Zeitungsbericht sehen, besteht die Gefahr, dass sie hier auftauchen und uns Probleme machen. Ich zeige Ihnen erst einmal das Haus. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen nicht alles zeige. Die Kinder haben ihre Priva t sphäre, und die respektieren wir. Respekt und Achtung sind die Grundpfeiler der kindlichen Entwicklung.«
»Verstehe.«
Rosalinde Baphomet führte mich durchs Sonnennest. Das Haus war alt, aber leidlich gepflegt, die Gänge w a ren lang, die Aufenthaltsräume mit Hellholz ausgestattet. An den Wänden hingen Gemälde von Kinderhand mit zwei großen und einer kleinen Figur oder grünen Lan d schaften mit Mond und Sternen. Das Sonnennest, erfuhr ich auf dem Weg durch Gebäude und Anlage, beherber g te de r zeit 98 Kinder, hatte aber Platz für 110. Die großen Kinder wurden morgens vom hauseigenen Bus auf Sch u len verteilt. Die elf Kinder im Vorschulalter wurden im hauseigenen Kindergarten von zwei Erzieherinnen b e treut. Es gab eine kleine Sporthalle, einen Kickplatz, ein Sandstück mit Volleyballnetz, die beiden Ponys und e i nen Stall mit fünf Kaninchen und einer Schar Mee r schwei n chen.
»Die Sehnsucht unserer Kinder nach stetigen Bezi e hungen ist groß«, erklärte Rosalinde Baphomet. »Und Tiere urteilen nicht, sie strafen nicht, sie missbrauchen nicht, sie sind immer da und immer freundlich. Natürlich können sie Vater und Mutter nicht ersetzen. Die Seh n sucht unserer Kinder nach Vater und Mutter ist unstillbar und schmerzhaft. Wenn wir es zuließen, würden sie ihren Eltern alles verzeihen, nur um zu ihnen zurückzukönnen. Sehen Sie den kleinen Jungen da drüben?«
Sie deutete auf einen Zwerg in grüner Kapuzenjacke, der einem Fußball hinterherlief.
»Sein Vater hat ihn mehrfach missbraucht. Die Mutter hat weggeschaut. Dennoch ist es der größte Wunsch des Jungen, wieder zu Hause bei seinen Eltern zu leben, n a
Weitere Kostenlose Bücher