Lehmann, Christine
ihrer Erfüllung.
Im Wohnzimmer saß inzwischen auch Katarina und bearbeitete ihren mp3-Player. Sie hob den Kopf, als ich eintrat. »Haben Sie Internet auf Ihrem Computer?«
»Wieso?«
»Könnte ich da auch meine Mails checken?«
»Wolltet ihr nicht in die Outlet-City fahren?«
»Geht ganz schnell.«
Wir gingen in die Küche. Ich fuhr meinen Computer hoch, tippte das Passwort ein, startete den Internetzugang und ließ Katarina am Küchentisch zurück. Richard sah aus, als müsse er dauerhaft ein Gähnen unterdrücken. Alena schlief inzwischen, leise schnurchelnd.
»Eigentlich brauchte ich jetzt das Auto«, eröffnete ich den Konflikt. »Aber ihr wollt ja nach Metzingen fahren.«
»Ich dachte, du kommst mit. Wir haben extra gewa r tet … Wir könnten dort auch was essen, dann muss deine Mutter nicht kochen.«
»Meine Mutter kocht gern. Wenn wir schon mal da sind! Außerdem habt ihr schon eingekauft!«
Ein verwundertes Lächeln erschien auf Richards G e sicht.
»Aber von mir aus könnt ihr dort was essen. Ich ko m me schon zurecht!«
Das war’s, was ich an Familien hasste. Aufeinander warten, Absprachen, Verhandlungen, Streit um den A u toschlüssel , Samstagvormittagseinkaufsbummel, Wiener Schnitzel und überbackene Baguettes in der Selbstbedi e nungs -Café teria .
»Wie du meinst«, sagte er und gab mir den Aut o schlüssel, »dann fahren wir eben mit dem Bus.«
Prompt überkam mich ein schlechtes Gewissen. Drei Leute mussten mit dem Bus fahren, weil ich das Auto wollte. Nicht, weil ich es jetzt brauchte – meine Fahrt wäre auch verschiebbar gewesen –, sondern weil ich rauswollte und für zwei Stunden selbst bestimmen, was ich tat und ließ.
»Und sei doch bitte so gut, Richard, und ruf Meisner an, ja?« Ich klang wie eine genervte Ehefrau. »Frag sie, woran der Rechtsmediziner Fremdverschulden erkannt hat. Und ob es Erkenntnisse aus den Genspuren gibt oder sonst irgendwelche Besonderheiten. Wir brauchen T ä terwissen.«
»Das darf sie auch mir nicht sagen, Lisa.«
»Jetzt zier dich doch nicht so! Wenn du sie direkt fragst, wird sie es dir sagen.«
Ich nahm Cipión , ließ ihn auf den Beifahrersitz spri n gen, legte mir die Zigarettenschachtel bereit und tippte von Wagners Liste ein halbes Dutzend Adressen in R i chards Navi und ließ alles hinter mir.
Zuerst Glems, ein Nest zwischen Wald und Feldern. Die Hausnummer in der Kirchstraße, die auf Wagners Liste stand, gab es nicht. Damit hatte sich Tobias Abele schon mal erledigt. Über Hardtsiedlung-Neuhausen und Neuhausen an der Erms fuhr ich nach Metzingen – e i gentlich hätte ich Richard und Katarina mitnehmen und im Einkaufsparadies absetzen können – und drüben wi e der hinaus. Bis Nürtingen raste ich eine Weile. Die näch s te Pflegeelternadresse lag in einem Industriegebiet. Ich fand zwar Hausnummer und Haus, sogar den Namen am Klingelschild, aber aus dem dazugehörigen Brie f kas ten quoll das Werbematerial. Hier war niemand zu Hause. Cipión pinkelte gegen den Pfosten der Briefka s tena n lage und ich machte Fotos. In Echterdingen stieß ich auf ein belebtes Haus in einer frühwinterlich ve r schlafenen Wohnsiedlung. Im Garten stand eine Scha u kel. Eine g e wisse Jil Bauer war hier untergebracht. Der Name der Pflegeeltern stand an der Klingel. In Walde n buch kaufte ich für meine Mutter im Werksverkauf von Ritter Sport kiloweise Schokolade, nachdem sich der Schelmenriegel nicht als Wohn-, sondern als Waldstraße entpuppt hatte. In Reutlingen war das fiktive Kind in einer nicht existierenden Wohnung auf einem Abrissg e län de unterg e bracht.
Halb eins kehrte ich nach Vingen zurück und klingelte an der Haustür meiner Mutter. Vergeblich. Was hatte ich erwartet? Zwei Stunden reichten nicht für Factory- Shopping, wenn ein dreizehnjähriges Mädchen und mei ne Mutter dabei waren, die eine gierig, weil sie zum ersten Mal in ihrem jungen Leben und vielleicht nie wi e der Gelegenheit bekam, auf Kosten eines spendablen Herrn einzukaufen, der nicht mit ihr ins Bett wollte, und die andere umständlich, weil Gier sich verbot und sie zu jedem Kleidungsstück, das sie gerne gehabt hätte, übe r redet werden musste. Ich stellte mir Richard vor, mit Alena im Arm – oder im Kinderwagen, wenn er Glück hatte – in Sesseln sitzend und einmal die Göre in etwas viel zu Kurzem oder zu Engem, dann die geschämige Alte in etwas viel zu Buntem bewundernd. Aber vie l leicht hatte er es genau so gewollt. Vielleicht war es das, wovon er von
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