Lehmann, Christine
Kindesbeinen an geträumt hatte, wenn er sich sein Leben als Mann vorstellte. Und Hugo-Boss-Anzüge.
Sie waren jedenfalls noch nicht wieder da, als ich fes t stellte, dass ich keinen Schlüssel hatte. Ich tappte ums Haus herum und suchte nach einem gekippten Fenster. Aber meine Mutter lüftete im Winter nicht, das sparte Heizöl. Schließlich ergab sich das Schloss zur Wasc h kü che meinem Pickset. Leider war die Tür zur Kelle r treppe dann auch abgeschlossen. Um sie zu öffnen, brauchte ich den krumm geschlagenen Nagel, über den die Wäsch e leine gespannt war.
Auf dem Küchentisch fand ich meinen Computer im Halbwachzustand mit der Maske eines E-Mail-Anbieters, in die ein gewisser MuminX eingeloggt war. Allerdings festgefroren. Posteingang und Postfächer waren sichtbar, aber der User ausgeloggt. Ich schickte Wagner eine No t mail: »Brauche das Passwort!«
Er antwortete prompt: »Lass mich mal. Zugang best ä tigen.«
Wenig später erschien ein Fenster, in dem ich Ja a n klicken musste. Dann taten Cursor und Bildschirm eine Weile allerlei Dinge. Schließlich verließ Wagner meinen Computer und teilte mir Katarinas Zugang mit: »M u minX, Pass: Kaulitz.« Ich loggte mich ein.
Katarinas letzte E-Mail war an Jovana gegangen und mit KX unterschrieben. »Ich kack ab! Aber keine Angst, sie ahnen nichts.«
Ärger flog mich an. Ich hätte gerne behauptet, dass ich was ahnte, aber ich wusste nicht, was. Ich kopierte erst einmal unbesehen den Inhalt aller Mailfächer auf meinen Computer. Dann überflog ich Katarinas Korrespondenz. Jovana und Katarina hatten nicht eben viele Mails ausg e tauscht. Sie sahen sich zu oft, und Katarina musste zum Mailen ja jedes Mal ins Sp@ce gehen. Die Liste der g e sendeten Mails reichte die vom Anbieter voreingestellten 90 Tage zurück bis Mitte September. Ich fand zahllose orthografisch zweifelhafte Briefe an die Fanadresse von Tokio Hotel. Musik voll fett, Bill Kaulitz voll süß. Unter dem Decknamen MuminX hatte sie auch an andere Stars geschrieben. Manche Briefe lasen sich wüst: »Totale K a cke! Voll übel!« Oder: »Du Einhandsegler, wenn du mich noch mal angrappschst, zeig ich dich an.« Von der Art gab es etliche. Ich vermutete, dass sie sich an Lehrer ric h teten. Außerdem stieß ich auf eine Mail an »d.depper«. Sie war drei Wochen alt und lautete: »Ich weiss alles über ihre Frau und waß sie gemacht hat mit den Kindern. Sagen sie ihr, sie darf uns Tobias nicht wegnehmen, sonst müssen sie dafür bezalen.«
Ich musste mir eine Zigarette anzünden. So eine Mal e fiz metz aber auch! Erpressung! Katarina erpresste Detlef Depper. Eben mal so, mit leichter Hand und jugendl i chem Leichtsinn, so wie sie gestern Abend Richard zu erpressen versucht hatte. Na warte!, dachte ich. Und rauchte bei offenem Fenster. Richard hatte sie mit Erl o genem zu erpressen versucht. Depper auch? Nina Habe r geiß war einst Hebamme gewesen, fiel mir ein.
An der Haustür knackte der Schlüssel. Jetzt schon! Verdammt. Ich warf die Zigarette zum Fenster hinaus, eine unnötige Panikreaktion, denn meine Mutter hatte uns das Rauchen erlaubt.
Tüten schoben sich in den Flur, gefolgt von meiner Mutter, Katarina und Richard mit Kinderwagen. Alena schrie. Meine Mutter trug Kuchen in die Küche, Katarina ihre Tüten in die Stube, Richard war gestresst und trug Alena nach oben. Mich sah keiner.
Ich folgte Richard die Treppe hinauf. Er hatte Alena auf dem verwitweten Ehebett meiner Mutter abgelegt und zog sich das Jackett aus.
»Ich bin einige Adressen abgefahren«, teilte ich mit. »Bei den meisten wohnen keine Kinder. Wir haben also recht gehabt …«
»Lisa, Kenntnisse, die ich durch Wagners Liste erla n ge, kann ich nicht verwenden!«, sagte er genervt, wä h rend er Alenas Strampler öffnete.
»Aber wenn wir zufällig durch eigenen Augenschein herausbekommen, dass …«
»Ich muss jetzt erst einmal Alena wickeln!«
Sie hatte sich buchstäblich bis zu den Ohren eing e schissen. Sie schrie, weil ihr das nicht gefiel. Es gefiel ihr aber auch nicht, dass jetzt die warme Scheiße im Luftzug kalt wurde. Sie schrie aus voller Kehle, ruderte mit den Armen, strampelte und schmierte gelbe Kinderkacke aufs weiße Laken des Ehebetts. Cipión machte eine lange N a se die Bettkante hinauf. Richard verlor die Nerven. Er gab Cipión einen gebremsten Tritt.
»Nimm doch diesen verdammten Köter da weg!«
»He, Cipión kann nichts dafür!«
Meine Mutter geisterte, verführt von großmütterl i chem Instinkt
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