Lehmann, Christine
mehr durch die alte Wohnsiedlung.
»Eins ist klar«, resümierte Richard. »Der Anfangsve r dacht reicht hin, damit wir das Sonnennest und die Sti f tung unter die Lupe nehmen. Und wir brauchen Wagners Liste nicht dafür. Es genügt, wenn wir mit den Zahlen des Xenodochiums ins Sonnennest gehen und alle Kinder zu sehen verlangen.«
»Und wann?«
»Na ja, jetzt ist Wochenende. Bis ich die Beschlüsse für das Sonnennest, die Stiftung und die Privat- und G e schäftsräume von Depper formuliert, die Anträge gestellt und alles vom Richter unterschrieben bekommen habe, wird es sicher Dienstag. Und eine Mannschaft für die Durchsuchung muss man auch zusammentrommeln.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Wo Alena nur bleibt. Es ist längst Zeit fürs Fläschchen.«
Ich seufzte innerlich. Das war’s dann wohl für heute. Der Staatsanwalt wurde wieder Papa. Kind statt Krimin a litätsbekämpfung.
27
Richard schlief wie tot, und ich lag wach im Frust, stoc k steif, weil die Prellung in der Schulter es verlangte, b e sorgte es mir schließlich selbst und zwang mich im Ox y tocin-Erguss der Selbstliebe zu gönnerhaften Gedanken. Gönn ihm die paar Tage das Kind. Dreimal hörte ich in dieser Nacht Alenas grillenhaftes Greinen, dreimal stand Richard auf und ging mit ihr hinunter in die Küche, g e folgt von meiner Mutter. Und weil ich nun mal schlaflos in Gönnerlaune war, gönnte ich es ihr auch gleich. Von mir würde sie nie einen Enkel bekommen.
Als ich gegen zehn aus bleiernem Scheintod erwachte, war das Bett neben mir bereits kalt. Richard saß im Wohnzimmer unterm heiligen Sebastian und versuchte, Alena für einen Schlüsselbund zu interessieren. Sie griff immer daneben. Eigentlich griff sie überhaupt nicht g e zielt. Aber sie atmete heftig und strampelte vergnügt.
»Na«, erkundigte ich mich. »Hat sie schon Papa g e sagt?«
»Das ist doch noch viel zu früh!«, entrüstete sich mei ne Mutter, die gerade mit einem Teefläschchen ei n trat. »Du hast erst mit vierzehn Monaten Papa gesagt, und Mama erst mit achtzehn Monaten. Aber du warst ja mit allem spät dran.«
Tröstlich! Ich folgte ihr in die Küche. Der Kaffee war nur noch lauwarm, die Brötchen bereits pappig.
»Wir haben um halb acht gefrühstückt.« Alles, was meine Mutter sagte, klang vorwurfsvoll, aber vermutlich konnte sie nichts dafür, sie hatte es nicht anders gelernt und war jetzt zu alt, es zu ändern. »Fürs Mittagessen ei n gekauft haben wir auch schon. Wir wollten dann jetzt mit Herrn Weber nach Metzingen fahren. Katarina war noch nie dort. Wir haben nur auf dich gewartet.«
Outlet-City, soso, Wiedergutmachung, dachte ich. Das passte mir jetzt gar nicht.
»Herr Weber ist ja wohl ein Frühaufsteher. Er hat aber gemeint, wir sollten dich schlafen lassen.«
»Er gefällt dir, was?«
Ein Mundwinkel rutschte meiner Mutter zum Ohr. »Er ist schon recht.« Zaghaft hoffnungsvoll und zugleich zweifelnd setzte sie hinzu: »Ist es was Ernstes?«
»Zumindest ist er mein bisher am längsten dauernder privater Irrtum«, antwortete ich. »Von dir abgesehen, Ma ma. Aber die Mutter kann man sich ja nicht auss u chen.«
»Das Kind auch nicht!«
»Hättest du gern ein anderes gehabt?«
»Kind, du stellst Fragen!«
»Ich tät’s gern wissen, Mama.«
»Du liebe Güte! Ich habe dich unter meinem Herzen getragen. Und so wie heute hat man sich damals nicht um Kinder kümmern können. Aber ob die heutigen Kinder wirklich glücklicher sind …«
»Als wer? Als ich?«
»Bei all den Ablenkungen, den Verlockungen und Verführungen. Meinst du etwa, Katarina ist glücklich?«
»Katarina ist ein schlechtes Beispiel, Mama. Ihre Mut ter hat sich vorgestern umgebracht. Das Jugendamt hat ihr ihren kleinen Bruder entführt. Ihr Vater ist davo n gelaufen, sie lebt seit Jahren von Hartz-IV, nicht mal die Realschulempfehlung haben ihre Lehrer ihr gegeben. Und jetzt kommt sie ins Heim.«
»Wer weiß, wozu’s gut ist. Und das Heim ist doch nicht mehr wie früher. Da wird nicht geprügelt, die Kin der müssen nicht hungern. Die haben da Sportplätze und Tiere. Sie lernen ein Instrument, sie kriegen Förde r unterricht. Das ist mehr als manches normale Kind b e kommt.«
Ich erfuhr nicht, ob ich ihr als Tochter so recht war, wie ich war. Vermutlich hatte sie sich diese Frage nie gestellt. Ihre Generation nahm’s, wie’s kam. Die intim s ten, die größten, die umstürzlerischen Wünsche kannte nur die Muttergottes. Und die hielt sich tunlichst zurück mit
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