Lehmann, Christine
und in der Antarktis kö n nen sie nicht leben, you know? Aber auf dem Mond. Sie knabbern die Dichtungen durch, you know.«
Ich sah die Artemis schon zusammenschnurzeln. »Wie ist das möglich?«
»Das ist nicht möglich.« Nguyen Van Sung lachte.
»Und wovon leben sie?«
Der Brillenwaran schob den Ärmel seines Sweaters hoch. Auf seinem Unterarm schwelten zwei schwarzrot-eitrige Knubbel. »Wie es scheint, betrachten sie uns als Beute.«
Daher also die entzündeten Stiche auf Torsten Veiths mumifiziertem Körper, die Dr. Zittel mit einem mir une rinnerlichen Fachwort bezeichnet hatte.
»Manche von uns reagieren ziemlich heftig auf das Gift, you know. Allergischer Schock. Aber unsere Chin e sin hat Zitrusöl dabei. Das haben wir zusammen mit Saft aus Tomatenzweigen in den Quartieren ausgebracht. Ame i sen mögen das nicht, you know.«
Sogar mit mondstaubtauber Nase hatte ich den Anflug von Zitrone und Tomate in der Luft meines Quartiers wahrgenommen.
»Aber jetzt haben wir ja unseren Spezialisten und Ameisen gift .« Der Koreaner linste zum Koffer.
»Und … äh …« Was zum Teufel musste ich jetzt fr a gen?
Van Sung lachte abwartend. »Leider gehören sie zu den Unbesiegbaren.«
»Was?«
» Selenopsis invicta , you know?«
»Ja, klar!« Immerhin erkannte ich das invicta , auch wenn ich nie Lateinisch gelernt hatte, als unbesiegt. Nannte man nicht die Rote Feuerameise so? Diese Bie s ter, die am Schluss von Hundert Jahre Einsamkeit den Säu g ling, das Kind der Liebe, aus dem Haus schleppten. Bei García Márquez hießen sie hortnigas coloradas , bu n te Ameisen. Das war kolumbianische Magie.
»Warum sind sie überhaupt hier?«
»Zur Tierkörperbeseitigung in der Biosphäre. Unsere Bienen und Hummeln sterben schnell, you know. Leider leben sie in Bauten tief unter der Erde.«
»I know. Äh …«
»Und sie leben draußen!«, tönte es hinter einem Ei n bauschrank hervor.
Beim Umdrehen hätte ich fast einen Stapel Plasti k schachteln umgestoßen. Ein bronzefarbener Mann mit glattschwarzem Haar schob sich in den Raum, der kaum Platz für drei ließ. Er hatte eine gebrochene Nase, schwarze Augen und einen dünnen Bartstrich am Kinn. »Da draußen! Im Regolith, verstehst du.«
»Da draußen leben keine Ameisen!«, schnarrte Dr. Nguyen Van Sung. Diesmal lachte er nicht. Das machte ihn einem kurzsichtigen Waran mit faltigem Hals und lippenlosem Spitzmaul noch ähnlicher.
»Wo sollten sie denn draußen auch Sauerstoff herkri e gen?«, fragte ich mutig.
»Von den Cyanobakterien!«, erwiderte die Rothaut. »Übrigens, ich bin Tupac Vaizaga, Bolivien. Aber das weißt du sicher.«
»Mucho gusto.«
Er bleckte kleine weiße Zähne. »Spanisch ist nicht meine Muttersprache. Als Kind habe ich Guarani gespr o chen.«
»Mborayhu ysap ý pe jahyp ý i na ñ e ñ e ’ ê. «
Nguyen Van Sung lachte, wenn auch verständnislos.
»Benetzen wir unsere Sprache mit dem Tau der Li e be«, übersetzte ich ins Englische den einzigen Satz Gu a rani, den ich aus Jux im Rahmen meiner Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin einmal gelernt und nicht ve r gessen hatte.
»Das ist paraguayisches Guarani«, mäkelte Tupac tro cken. »Meine Muttersprache ist Tupiguarani. Bleiben wir also – auch mit Rücksicht auf Van Sung – beim En g lischen, Dr. Ardan.«
»Michelle für Freunde.«
Tupac runzelte die Stirn. »Ist das so bei euch, dass ihr bestimmt, wer eure Freunde sind?«
Himmel aber auch! »Und wie hat es ein bolivianischer Indianer eigentlich in ein internationales Raumfahrtpr o gramm geschafft?«
»Durch Arbeit, viel Arbeit!«
»Aber an deinen ethnischen Minderwertigkeitskompl e xen könntest du schon noch ein bisschen arbeiten, eh?«
Tupac zutzelte Gift von seinen Zähnchen. Ich wartete darauf, dass er mich damit bespuckte, aber er sammelte vorerst nur.
Vermutlich war er in Kourou in Französisch-Guayana gestartet, auf einer der europäischen Trägerraketen mit tonnenschweren racks , Wassertanks und Nahrung für die Artemis. Und Van Sung, wo war der eingestiegen? Vie l leicht im chinesischen Raumfahrtbahnhof Jiuquan am Rand der Wüste Gobi oder im indischen Sriharikota, gleich bei Madras, das die Tamilen Chennai nannten? Oder, wie üblich, in Baikonur? Bei meinen kursorischen Internetrecherchen über die nationalen Raumfahrtpr o gramme war ich auf ein gutes Dutzend Weltraumbahnh ö fe gestoßen, sechs, die den USA gehörten, drei in Rus s land, einen in Kasachstan, drei in China, zwei in Japan, einen in Indien,
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