Lehmann, Sebastian
aussieht. Ganz objektiv jetzt. Kantiges Gesicht, dunkle, akkurat gescheitelte Haare, grünblaue Augen, groß und schlank. Er erinnert eher an Gary Cooper als an Gary Barlow und wirkt wie aus einer Zeit, als Männer noch maßgeschneiderte Anzüge und Hüte trugen und die Welt in Technicolor getaucht war. Natürlich hat er keine Ahnung davon, und ich werde den Teufel tun, ihm das zu sagen.
Plötzlich steht Kurt vor mir. Er hält sein Handy ans Ohr, ohne reinzusprechen, und sieht nervös aus.
»Ich muss wieder nach Hause«, sagt er schließlich und lässt seine Hand sinken.
»Du bist doch gerade erst gekommen.«
»Ihr geht’s nicht gut. Vielleicht Wehen. Ist zwar zu früh, aber man weiß nie.«
»Trotzdem …«, ich versuche, einen Einwand zu formulieren, aber er unterbricht mich sofort.
»Das ist der Ernst des Lebens. Tut mir leid.« Kurt dreht sich um und steigt in die U-Bahn.
Ich starre ihm ungläubig hinterher. Die Bahn fährt los und verschwindet im Dunkel des Tunnels.
Gary gesellt sich zu mir. »Was ist los?«
»Der Ernst des Lebens.«
»Ach so«, sagt Gary, als sei das alles vollkommen normal. Und vielleicht ist es das auch. Was weiß ich schon über den Ernst des Lebens?
Ich beschließe, nicht weiter darüber nachzudenken, und erzähle Gary die nötigsten Details über Christina und Dr. Alban. Anders als Kurt, der mich jetzt bestimmt mit missbilligendenKommentaren nerven würde, von wegen zu jung und zu gut für mich, nickt Gary nur verständnisvoll und sagt, dass er sich für mich freue. Manchmal sind unterwürfige Freunde wirklich angenehm.
Wir laufen eine Weile die Sonnenallee entlang, und als wir endlich vor dem Haus Nr. 73 stehen, deutet nichts auf eine Party hin, keine Musik, keine Partycrowd, alles ganz normal. Ich studiere das Klingelschild nach Hinweisen, die auf einen geheimen Club hinweisen könnten, finde jedoch nichts. Gary trippelt die ganze Zeit unsicher und nervös zugleich neben mir rum.
Und jetzt? Ich kann Christina nicht einmal anrufen, weil ich immer noch nicht ihre Handynummer habe, aber da geht plötzlich die Haustür auf, und der hessische Barkeeper mit der Federboa aus dem Kellerclub steht vor uns. Den hätte ich hier nicht erwartet. Er klimpert mit seinen Augen, die – wie ich jetzt sehe – mit dunklem Kajal umrandet sind, und sieht exakt aus wie Frank N. Furter aus der Rocky Horror Picture Show. Nur die Strapse fehlen natürlich.
»Zurück in die Zukunft?«, fragt er dieses Mal auf Deutsch.
Ich sehe erst Frank N. Furter und dann Gary an, der völlig verwirrt neben mir steht, dann wieder Frank.
»Äh, nee. Wir kommen von jetzt, also aus der Gegenwart …«, stammle ich.
Frank N. ignoriert mich einfach, dreht sich um und geht die Treppen hinauf. Schnell folgen wir ihm in eine Wohnung im ersten Stock, in der tatsächlich die Party ist. Jedenfalls stehen ein paar Leute im Flur rum, und es läuft Musik. Anscheinend befindet sich der Abend noch im Anfangsstadium, und wir konnten deswegen auf der Straße nichts hören.
Frank N. verschwindet ohne ein weiteres Wort wieder im Treppenhaus, und wir gehen schüchtern Richtung Küche. Niemand beachtet uns, also scheinen wir nicht allzu sehr aufzufallen. Selbst Gary nicht. Oder diese Ignoranz ist unsere Strafe dafür, in einer fremden Wohnung aufzutauchen, alt, durchschnittlich und ohne irgendjemanden zu kennen. Aber auch dieser Gedanke passt eher zu einem fünfzehnjährigen Pubertätsgeschädigten als zu einem einunddreißigjährigen Journalisten (na ja).
In der Küche ist ebenfalls kaum etwas los, nur am Küchentisch sitzen zwei Hipster und unterhalten sich aufgeregt – ich schnappe die Worte Tiergarten und Beule auf, als mir Gary eine Bierflasche entgegenhält. Er entnimmt seiner peinlichen Tasche noch eine weitere, und wir stoßen an. Irgendwie bin ich doch ganz froh, ihn mitgenommen zu haben.
Christina scheint noch nicht da zu sein. Wir schlendern ins Wohnzimmer, und plötzlich verstehe ich alles.
»Wir sind auf einer Mottoparty.«
Gary schaut mich verdutzt an.
»Der Film«, sage ich. »Zurück in die Zukunft«.
Gary kapiert natürlich nichts.
»Na, das da ist Doc Brown.« Ich deute auf einen Typen in einem orangen Overall mit wirren, grau-gefärbten Haaren. Er nickt uns zu. »Daneben sitzt sein Freund Marty McFly.« Marty, vor dem ein neonfarbenes Skateboard steht, tippt sich an die Old-School-Basecap.
»Hallo, McFly, jemand zu Hause?«, ruft ein großer Blonder, der gerade durch die Tür kommt. »Du feige
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