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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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das jetzt ernst meint oder nicht.
    »Du willst jetzt nicht wirklich arbeiten gehen, oder?«, versuche ich es noch einmal.
    »Du bist lustig, Marky Mark.« Christina taucht ihr Gesicht wieder tief in den Kaffeedampf hinein und nimmt einen großen Schluck.
    Vielleicht ist sie all das, was ich nicht bin, was ich nicht mehr bin. Ich habe sie in dem Moment getroffen, als ihr Leben gerade so richtig anfängt, und ich bin schon mittendrin in meinem. Jedenfalls altersmäßig. Vielleicht hätte ich aber auch Psychoanalytiker werden sollen, dann könnte ich ungestraft solche Klischees von mir geben.
    Christina steht auf und beginnt wahllos Dinge in einen ihrer unzähligen, im ganzen Zimmer verteilten Stoffbeutel zu stecken, die sie wahrscheinlich zur Arbeit mitnehmen will. In diesem Moment beginnt gerade ein neues Lied von LCD Soundsystem, ich kenne es natürlich, es ist der größte Hit und heißt – ziemlich plakativ, aber was soll ich machen, so ist es nun mal –: »Someone Great«.
    Ich nehme auch einen Schluck Kaffee und beobachte Christina dabei, wie sie gutgelaunt durch ihr Zimmer fegt, sich dabei mit einer Hand die Wimpern tuscht und mit der anderen ihr Handy bearbeitet. Ich werde immer müder, schließlich ist es für meine Verhältnisse noch ziemlich früh am Tag, und ich muss wieder ausgiebig gähnen. Meine Augen fallen zu, ich höre gerade noch, wie das nächste Lied anfängt, ich glaube, es heißt »I Can Change« oder doch »I Can’t Change«, ich weiß nicht genau.
    Dann schlafe ich ein.

6
ZURÜCK in die ZUKUNFT
    Alles ist vollkommen still, als ich aufwache, nur aus der Wohnung einen Stock höher höre ich gedämpftes Kinderlachen. Ich stehe auf, sammle meine Kleider zusammen und ziehe mich an. Langsam schlurfe ich durch den kreativ zugemüllten Flur, in dem ein altes Rennrad an der Wand lehnt, zur Küche. Christina scheint schon gegangen zu sein. Mein Blick fällt auf einen alten Wecker, der neben der Spüle steht, in der sich unzählige schmutzige Teller und Gläser stapeln. Wenn er richtig geht, müsste Christina schon vor drei Stunden die Wohnung verlassen haben. Tatsächlich fühle ich mich ausnahmsweise schön ausgeschlafen und fit.
    Ich gehe zurück in den Flur. Die Tür zu Dr. Albans Zimmer steht halboffen, ich klopfe sachte an und hüstle übertrieben. Keine Reaktion. Ich kann mich natürlich nicht beherrschen, öffne die Tür ganz und trete ein. Im Gegensatz zu Christinas stylischem Chaos und dem zugemüllten Flur ist hier alles schön aufgeräumt. Es gibt kaum Möbel, nur einen Schreibtisch, davor einen Designerstuhl aus Draht und eine schmale Matratze auf dem Boden. An der Wand steht genau wie bei Christina ein Plattenspieler, danebenlehnen einige Schallplatten. Falls Dr. Alban genauso jung ist wie Christina, dann fällt seine Geburt ungefähr mit dem Tod der Schallplatte zusammen. Aber Totgesagte leben eben länger – und ich wünschte, ich hätte meine Jugend nicht verschwendet und fünfhundert inzwischen völlig nutzlose und hässliche Plastikscheiben, auch Compact Discs genannt, gekauft. Wie viel Geld ich der Musikindustrie in den Rachen geworfen habe für wertlose, billige Datenträger. Christina und Dr. Alban können in diesem Fall froh sein über die Gnade der späten Geburt.
    Als ich zurück in Christinas Zimmer bin, scheint die Sonne immer noch auf die makellos abgezogenen Dielen, und mir fällt wieder dieses seltsame Licht in Neukölln auf. Kurz überlege ich, mit meinem Handy ein Foto zu machen, finde das dann aber doch etwas zu pathetisch. Ich nehme stattdessen meinen Stoffbeutel mit der Adresse von der gestrigen Galerieeröffnung von ihrem Bett, und als ich ihn gerade über meine Schulter werfen will, sehe ich, dass auf der anderen Seite etwas Neues steht: »See you tonight at Sonnenallee 73. Sleep tight, lovely Marky.«

    Als ich eine halbe Stunde später meine Wohnung in Tiergarten betrete, kommt sie mir plötzlich komplett spießig vor. Alles wirkt halbwegs sauber und aufgeräumt. Ich besitze nicht einmal ein Rennrad, das ich in den Flur stellen könnte, mein altes Damenrad verrottet seit drei Jahren mit zwei platten Reifen im Keller. Im Wohnzimmer stehen sogar Zimmerpflanzen, die nicht verdorrt sind. Na ja, eine. In meiner Spüle stapelt sich kein einziger Teller, denn ich besitze natürlich eine Spülmaschine, und ich habe, damals vor drei Jahren, als ich mein Bett gekauft habe, etwa hundertzehnMatratzen probegelegen, bis ich mich schließlich für ein Modell mit doppeltem

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